Succubus Blues - Komm ihr nicht zu nah
ich nicht erklären konnte.
Seth verabschiedete sich von seinem Bruder, während ich mich an der Tür herumdrückte. Dabei fiel mir ein kleines Regal neben mir auf. Ich betrachtete die Titel und zog eine Bibelausgabe heraus. Da mir Romans Worte über die schlechte Übersetzung der King-James-Bibel einfielen, öffnete ich diese hier bei Genesis 6.
Die Worte waren fast identisch, hörten sich hier und da ein wenig klarer und moderner an, größtenteils jedoch unverändert. Mit einer Ausnahme. In Vers 4 hatte in der King-James-Bibel gestanden:
1 Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden,
2 sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel.
3 Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen.
4 In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer.
In dieser Version hieß es jedoch: »In jenen Tagen befanden sich die Nephilim auf der Erde, und auch danach, als die Söhne des wahren Gottes fortfuhren, mit den Töchtern der Menschen Beziehungen zu haben, und sie ihnen Söhne gebaren, waren sie die starken Männer, die von alters her waren, die Männer von Ruhm.«
Nephilim? Neben dem Wort stand eine hochgestellte Ziffer, und ich folgte ihr zu der entsprechenden Fußnote:
»Die Nephilim (hebräisch Ha-Nephillim: „Fäller, zu Fall Bringende“) waren in der altisraelitischen Mythologie riesenhafte Mischwesen, gezeugt von göttlichen Wesen und Menschenfrauen. In der späteren Tradition (Buch Henoch) wurden die „göttlichen Wesen“ zumeist als gefallene Engel interpretiert. Die Nephilim waren größer und stärker als Menschen und (in manchen Interpretationen) von großer Boshaftigkeit.« (Harrington, 2001)
Enttäuscht schlug ich in der Bibliografie des Buchs nach und fand einen Verweis auf den Titel Biblische Arkana und Mythen von Robert Harrington. Ich prägte mir Titel und Autor ein und schob die Bibel gerade in dem Moment zurück, als Seth sich zum Gehen wandte.
Schweigend fuhren wir dahin, und der Himmel ergraute sehr früh, da Seattles Winter nahte. Normalerweise hätte ich das Schweigen im Wagen als peinlich oder unheimlich interpretiert, aber ich fand es behaglich, während ich den Verweis auf die Nephilim überdachte. Ich musste das Buch von Harrington in die Finger bekommen, entschied ich.
»Es gab kein Eis«, bemerkte Seth plötzlich und unterbrach meine Überlegungen.
»Hm?«
»Bei Terry und Andrea. Sie hatten nur Torten ohne Eis. Möchten Sie ein Eis haben?«
»Hatten Sie noch nicht genug Zucker?«
»Beides gehört einfach nur zusammen, mehr nicht.«
»Draußen ist es nur etwa zehn Grad«, warnte ich ihn, als er den Wagen gleich neben einer Eisdiele anhielt. Eis bei so unfreundlicher Witterung erschien mir seltsam. »Und es ist windig.«
»Machen Sie Witze? In Chicago hätte so ein Laden zu dieser Jahreszeit nicht mal geöffnet. Es ist doch mild.«
Wir traten ein. Seth bestellte zwei Kugeln Pfefferminzeis mit Schokoraspeln. Ich, etwas wagemutiger aufgelegt, bestellte zwei Kugeln Heidelbeer-Käsekucheneis und Mandelmocha. Wir setzen uns an ein Fenster und aßen unsere Süßigkeiten in weiterem Schweigen.
Schließlich sagte er: »Sie sind heute sehr schweigsam.«
Ich unterbrach meine geistige Analyse der Nephilim und richtete meine Gedanken verwundert auf ihn. »Das ist mal ein Rollentausch.«
»Was denn?«
»Normalerweise halte ich Sie für zu still. Ich muss reden und reden, um die Sache in Schwung zu halten.«
»Ist mir aufgefallen. Äh, das habe ich nicht so gemeint, wie es herausgekommen ist. Es hörte sich schlimm an. Wenn Sie reden, ist das was Gutes. Sie wissen stets, was zu sagen ist. Genau das Richtige zu genau der richtigen Zeit.«
»Nicht letzte Nacht. Letzte Nacht habe ich fürchterliches Zeugs geschwafelt. Sowohl bei Doug als auch bei Roman. Sie werden mir nie verzeihen«, beklagte ich mich.
»Aber natürlich. Doug ist ein guter Junge. Roman kenne ich nicht richtig, aber …«
»Aber was?«
Seth wirkte plötzlich verlegen. »Ich könnte mir vorstellen, dass man Ihnen leicht vergibt.«
Einen Augenblick lang sahen wir einander an, und meine Wangen erwärmten sich.
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