Such mich Thriller
Magritte stellte sich ein kleines Mädchen vor, das an der Spitze des Hochzeitszuges mit kleinen Trippelschritten auf das hohe Buntglasfenster zuging. Er konnte nur hoffen, dass diese Ehe fruchtbar war. Wenn die Erde die vermissten Kinder schon nicht wieder hergab, würde das Paar zumindest dafür sorgen, sie wieder zu bevölkern.
Magritte legte Jacke und Nylonrucksack auf die erste Bank. Auch die leichtesten Lasten wogen schwer für einen alten Mann mit entzündeten Gelenken, und doch war er hier, um sich noch mehr Qualen zu bereiten. Er stieg die drei Stufen zum Altar hoch, zündete alle Kerzen an und trat zurück. Er verzichtete auf die Bequemlichkeit eines Polsters und kniete sich auf den nackten Steinboden. Das war sehr schmerzhaft für seine Knie. Er nannte es Buße.
Mary Egram war die Erste, die hatte sterben müssen. Damit hatte alles angefangen.
Er ließ die rubinroten Rosenkranzperlen durch die Finger gleiten. Bei diesem Ritual hatte er immer das Egram-Haus in Illinois vor Augen, das damals schon so ausgesehen hatte, als könnte es gleich in den Vorgarten stürzen. Im Haus selbst war es nicht viel besser gewesen, die Wände waren krumm und schief, er war jeden Moment darauf gefasst gewesen, dass die Decke ihm auf den Kopf fiel.
Jetzt faltete er die Hände zum Gebet und rief sich das Blumenmuster der abgewetzten Polstermöbel und abgetretenen Läufer ins Gedächtnis. Ein großer Fernseher war der einzige Luxus, den sich die Egrams in diesem Zimmer geleistet hatten,
und den hatte sicher der Mann, ein begeisterter Football-Fan, ausgesucht. Er sah Mr. Egram auf der Couch sitzen und auf den leeren Bildschirm starren, während er ungeduldig mit den Füßen auf den Boden klopfte, als könne er damit Magrittes Besuch abkürzen.
Paul Magritte hatte diesen Film tausendmal in seinem Kopf ablaufen lassen, so dass er nicht eine Einzelheit, kein Klopfen vergaß. Die Erinnerung hatte auch die zwölf Votivkerzen bewahrt, die um das Foto der blonden fünfjährigen Mary herumstanden. Dass der Schrein des vermissten Kindes einen Ehrenplatz auf dem Fernseher hatte, war wohl das Werk der Mutter. Die Medien hatten die Eltern ihrem Schicksal überlassen, ihre Tragödie war vergessen. Mrs. Egram aber hatte dafür gesorgt, dass ihr Mann nichts vergaß, nicht einmal während der Atempause, die ihm ein Fußballspiel am Sonntagnachmittag verschaffte.
Das Wohnzimmer der Egrams war voller Gipsheiliger, Essecke und Diele waren mit frommem Schnickschnack geschmückt, als habe Mary Egrams Mutter einen ganzen Devotionalienladen leergekauft. Kein Wunder - die einst fromme Katholikin war vom Glauben abgefallen, erst kürzlich wieder in den Schoß der Kirche zurückgekehrt und entsprechend fanatisch. Und der Vater des vermissten Kindes? Der hielt nicht viel vom lieben Gott.
Er stamme von Methodisten ab, hatte Sarah Egram diese Abseitshaltung zu erklären versucht. Der protestantische Lastwagenfahrer ertrug es stoisch, dass seine Frau ständig an ihrem Rosenkranz herumspielte und mit lautlosen Lippenbewegungen Hilfe in magischen Beschwörungsformeln suchte. Hin und wieder ging ihr Blick zum Fenster, vielleicht um zu prüfen, ob ihre Gebete schon geholfen hatten. Oder um nach dem Kind im Garten zu sehen. Dem überlebenden Kind.
Das war Paul Magrittes zweiter Gedanke an jenem Nachmittag vor so vielen Jahren gewesen.
Er öffnete mit einem Ruck die Augen. Vielleicht waren es die Schmerzen im Knie, die ihn aus seinen Erinnerungen wieder auf den kalten Steinboden dieser texanischen Kirche zurückgeholt hatten. Oder nein - er hatte etwas gespürt. Ein Etwas - oder einen Jemand. Die Flammen der Altarkerzen flackerten, als ginge ganz in seiner Nähe jemand an ihnen vorbei. Wie anfällig war er, wenn ein Windhauch in einer zugigen alten Kirche es vermochte, ihm den Atem zu nehmen, sein Herz stillstehen zu lassen. Die Angst war noch da, aber er sah sich nicht um, sondern schloss wieder die Augen, um die Fehler seiner Vergangenheit zu betrachten. Er sah sich wieder in einem schäbigen Wohnzimmer sitzen, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
Mr. Egram saß auf der Couch neben seiner Frau, streckte eine große Hand aus und legte sie sanft über ihre Finger und die Rosenkranzperlen, um dem unablässigen Geklapper ein Ende zu machen. Auch die Lippen der Frau standen jetzt still. Das Kind näherte sich vom Garten her dem Haus, blieb auf halbem Wege auf dem Plattenweg stehen, wartete vielleicht auf einen Wink der Mutter.
An jenem Nachmittag
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