Such mich Thriller
hatte sich Paul Magritte im Zimmer umgesehen, während das bedrückende Schweigen andauerte, hatte die hellen Stellen auf der Tapete zur Kenntnis genommen, an denen einmal Bilder gehangen hatten, die womöglich der Madonna und einem Hofstaat von Heiligen nicht wohlgefällig waren. Und als sei ein mit frommem Kitsch vollgestopftes Haus nicht Zumutung genug, musste der arme Mr. Egram jetzt mit ansehen, dass ein Fremder seinen Lieblingssessel mit Beschlag belegt hatte. Seine Frau hatte darauf bestanden, dass der Besucher den bequemsten Platz im Haus bekam, den Sessel direkt vor dem Fernseher.
Das Kind drückte das Gesicht an die Scheibe. Ein entstelltes Gesicht, schiefgezogen, mit einem herausquellenden Auge, während das andere tief ins Fleisch eingebettet war.
Paul Magritte hatte die kleine Horrorshow damals nicht weiter aufgeregt. Er sah sie als Trick, um Aufmerksamkeit zu erregen, normales Verhalten eines Kindes, dessen Eltern kaum emotionale Bindungen zuließen. Obgleich die Schwester vermisst wurde, war der Junge gut angepasst, das hatte eine psychologische Untersuchung ergeben, als der Zehnjährige während der polizeilichen Ermittlungen gegen die Eltern in der Obhut des Jugendamtes gewesen war. Damals war Dr. Magritte nur über das Verhalten der Mutter empört. Wie konnte sie sich gegen seinen hervorragenden Plan sträuben, das überlebende Kind mitzunehmen? Dumm wie er war, glaubte er, dass sie seinen Vorschlag gar nicht voll erfasst hatte. »Finanziell bedeutet das keinerlei Belastung für Ihre Familie«, hatte er gesagt. Der Chirurg, das Krankenhaus und das Personal - alle würden unentgeltlich arbeiten.
Zum zweiten Mal hatte sie abgelehnt. »Es wäre nicht recht«, hatte sie gesagt. »Dadurch wird nichts wieder normal. Niemand wird es je kommen sehen.«
ES.
So hatte sie von ihrem entstellten Kind gesprochen.
Die Erinnerung verflog wie Nebel, und wieder öffneten sich Paul Magrittes Augen sehr plötzlich. Die Altarkerzen schwankten nicht, aber er hatte ein Geräusch gehört. Eine Babyklapper? Nein, und auch keinen Rosenkranz. Was hatte Sarah Egram gesagt: Er würde ES nicht kommen sehen. Die Angst hatte ihn voll im Griff, er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal umdrehen konnte er sich. Aber die Augen konnte er schließen - nicht um zu beten, sondern um sich ins Haus der Egrams zu flüchten.
Er sah das kleine verunstaltete Gesicht, das sich an die Fensterscheibe drückte, das eine Auge, das auf die Mutter gerichtet war. Die Mutter, die für jedes Kind der Mittelpunkt der Welt war. Aber Mrs. Egram sah in die andere Richtung, und etwas, was vor ihrem inneren Auge stand, ließ sie erzittern. Damals hatte Paul Magritte geglaubt, die arme Frau habe an das Schicksal ihrer vermissten Fünfjährigen gedacht. Oder die Vorstellung, sich von ihrem Ältesten trennen zu müssen, habe sie aus der Bahn geworfen.
»Wir wären nur vier Wochen weg.« Paul Magritte hatte vor, den Jungen persönlich nach Chicago zu begleiten. Wenn nur die Mutter Vernunft annehmen würde! »Es würde allerdings nicht bei dieser einen Operation bleiben, manche Eingriffe lassen sich am besten in der Jugend ausführen. Später, wenn die Knochen sich verfestigt haben …«
»Das verstehen Sie nicht«, hatte sie gesagt, langsm und mütterlich, wie man zu kleinen Kindern spricht. »Es ist nicht recht. Es ist nicht Gottes Wille.«
Der Lastwagenfahrer war aus seiner Lethargie erwacht. »Vier Wochen sagen Sie? Soll mir recht sein.« Er griff nach der Einverständniserklärung. Sarah Egram hatte sich vorgebeugt und senkte den Blick, während ihr Mann in seinen Taschen nach einem Kugelschreiber kramte. Seine Frau gab sich geschlagen. Sie stand auf und verließ das Zimmer.
»Eine Unterschrift reicht?«, fragte der Trucker mit gezücktem Stift.
»Ja, gewiss.« Magritte sah Sarah nach. »Ihre Frau braucht Hilfe.«
»Ich weiß, was sie braucht.« Das waren die letzten Worte, die er je von Mr. Egram gehört hatte.
Ein metallisches Geräusch holte Paul Magritte in die Wirklichkeit zurück, wo jetzt auch er den Rosenkranz abarbeitete
und die magischen Worte flüsterte. Er bat nicht um Vergebung oder Befreiung von Schmerzen, er wollte nur seine immer größer werdende Angst zurückdrängen. Er war nicht mehr allein, Flucht war nicht mehr möglich, nicht durch eine Tür in der Gegenwart noch durch eine in der Vergangenheit. Ein Frösteln überlief ihn. Er hielt den Atem an.
Wer würde es sein?
»Für wen beten Sie, alter Mann?«
»Für Sie.« Es
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