Suche nicht die Suende
werden.« Ihr Gesicht wies eine elegante Knochenstruktur auf, die ihre haselnussbraunen Augen leicht schräg stehen ließen; sie ließ diese Schrägstellung wirken, indem sie Alex neckisch ansah. Er küsste seine Fingerspitzen und warf ihr den Kuss zu. Eine mechanische Geste. Sie klimperte mit den Wimpern. »Haben Sie diese Meldungen schon einmal gelesen, Mr de Grey? Nein? Oh, sie sind ganz fürchterlich; ich kann es gar nicht ertragen, sie wiederzugeben.«
»Bitte versuchen Sie es trotzdem«, sagte Gwen. Ihr Tonfall klang strahlend; niemandem sonst würde auffallen, wie steif und aufrecht sie ihren Rücken hielt oder wie angespannt ihre Schultern waren. Sie hatte sechs Jahre lang ein Rückenbrett getragen. Wann immer sie sich unsicher und klein, bedroht oder ängstlich fühlte, war ihre Haltung kerzengerade und schmerzlich vollkommen. Diese Dinge, die er über sie wusste – Dinge, von denen Gwen nicht einmal ahnte, dass er sie wusste –, davon gab es unzählige. Für einen Mann, der sie so wenig verstanden hatte, hatte Richard sie sehr geliebt und oft von ihr gesprochen. Und Alex hatte ihn dazu ermutigt – fast beständig. Was hatte er über die Jahre nicht alles über sie wissen wollen!
»Nein, nein, Miss Goodrick! Und ich rate Ihnen, sich diese Meldungen nicht anzusehen. Aber … na gut. Es sind Listen mit den Namen derer, die vor Kurzem Selbstmord begangen haben. Namen von Männern, die vermutlich an den Spieltischen Monte Carlos gescheitert und am Misserfolg zerbrochen sind. Aber Sie dürfen nicht einmal die Hälfte der Namen für bare Münze nehmen. Die Priester denken sich diese Geschichten aus, um den Leuten Angst zu machen.«
»Tatsächlich?« Gwen legte mit der angemessenen Zurschaustellung von Bestürzung die Fingerspitzen an die Lippen.
Zurzeit lernt sie, nicht den Mund offen stehen zu lassen,
hatte Richard berichtet.
Solcher Art sind die Lektionen, die eine Lady anstelle von Latein lernen muss. Ihre Gouvernante hat sie gewarnt, sie würde sonst eines Tages ungewollt eine Fliege verschlucken.
Warum hatte er diese Einzelheiten über Jahre gesammelt und aufbewahrt? Wieder und wieder hatte er versucht, diese Fragmente in ein Bild zu zwängen: das Bild der Debütantin, gemalt in zarten Aquarellfarben, damit es sich unauffällig in seine Umgebung einfügte. Doch es war ihm nie gelungen, diese Stücke zu einem Ganzen zusammenzufügen. Und deshalb hatte er sie wie so viele Andenken mit sich herumgetragen – als Warnung davor, wie leicht er, wenn er nicht aufpasste, in ein behagliches Leben hineingleiten könnte, das nur fantasielose Männer führten. Und dann, an irgendeinem Punkt, hatten die Andenken in seiner Hand begonnen, sich zu bewegen und ihm das Leben zu zeigen, das er hätte führen könnte, wäre er die Sorte Mann gewesen, die Gwen sich wünschte. Aber er war nicht fähig gewesen, dieser Mann zu sein. Er hatte nicht diese Sorte Mann werden wollen. Und das war die Gewissheit, die ihn zurück auf ein Schiff getrieben hatte – das Mantra, auf das er gehört hatte, wenn Southampton am Horizont kleiner und kleiner geworden war, für weitere sechs Monate, noch eine Jahreszeit, ein weiteres Jahr.
»Vielleicht sind es Lügen«, sagte der Spanier zu Francesca Rizzardi. »Aber ich denke, dass an diesen Listen auch etwas Wahres sein muss.«
»Meinen Sie wirklich? Aber nein«, sagte die Signora. »Wie sollten denn derart Bedürftige überhaupt in das Casino gelangen? Ohne Zutrittsberechtigung?«
Alex spürte Gwen neben sich, ihre warme, atmende Nähe. Und in ihm entstand das fast unbezwingbare Verlangen, sie an sich zu ziehen. Sie zu halten. Doch immer war er derjenige, dem es bestimmt war zu gehen, einfach darum, weil es keine andere Wahl zu geben schien. Zu bleiben hätte für ihn bedeutet, sich zu verlieren.
»Vielleicht sind sie nicht bedürftig, wenn sie das Casino betreten«, sagte de Cruz. »Spielfieber ist eine Realität. Ich habe das gesehen. Es kann selbst die tiefsten Taschen leeren.«
»Arme Seelen«, murmelte Gwen.
»Ein schwacher Wille wird unter jedem Druck zerbrechen«, erwiderte die Signora scharf. »Ich kann kein Mitleid für diese Menschen empfinden, die sich selbst zerstören.«
»Wohl wahr, wohl wahr«, sagte der Spanier. »Aber ich glaube fest, dass sie keine Kontrolle mehr darüber haben. Männer im Griff des Fiebers gehen mit Freuden das Risiko ein, alles zu verlieren. Auch das, was sie sich gar nicht leisten können.«
Natürlich gehen sie dieses Risiko ein,
dachte
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