Suche nicht die Suende
den Schlaf geweint hatte und fünf Mal von einer Tante aufgescheut worden war, die wünschte, dass sie herunterkam und in Gesellschaft über ihre öffentliche Demütigung sinnierte.
Eine ganze Menge, was da bis jetzt in einen einzigen Tag hineingepasst hatte.
Tränen stachen ihr in den Augen. Nicht schon wieder! Sie blinzelte sie fort.
Hör auf zu heulen
, dachte sie.
Du hast ihn doch gar nicht geliebt.
Sie hatte ihn sehr gemocht, und sie hatte gehofft und geschworen, ihn lieben zu lernen, aber diese endlosen Tränen galten auch gar nicht dem Leben, das sie miteinander geteilt hätten. Sie sind der Demütigung geschuldet, hatte sie gedacht. Und dem Verrat und dem Schock. Und sie hatten ihr bereits fürchterliche Kopfschmerzen beschert, darum wollte sie nicht, dass sie noch schlimmer wurden.
Gwen ließ die Hand vom Vorhang sinken und wandte sich mit einem Seufzen vom Fenster ab. Ein Stück Papier lag unbeachtet auf dem Teppich. Nachdem Gwen es einen Moment lang angestarrt hatte, erkannte sie es: Ihr anonymer Bewunderer hatte heute einen weiteren Brief geschickt; bei ihrer Rückkehr aus der Kirche hatte er schon auf sie gewartet. Hatte sie ihn bereits gelesen? Es schien so, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht daran erinnerte.
Sie hob das Blatt auf und setzte sich auf einen bequemen Sessel. Ja, auf dem Papier waren Tränenflecken zu sehen. Gwen schluckte und beschloss, sie zu ignorieren. Die Schrift wirkte doch sehr elegant, nicht wahr? Oh, sie würde sich keinen Illusionen mehr hingeben. Bei ihrem Glück plagte den Verfasser vermutlich die Gicht, und er hatte sechs Kinder und eine Glatze.
Da ich befürchtete, Ihnen zu nahe zu treten, habe ich bislang gezögert, einen weiteren Brief zu schreiben, aber meine glühende Bewunderung drängt mich, die Grenzen der Korrektheit zu überschreiten. Ich möchte Ihnen meine Gedanken zu der Frage darlegen, die mich bereits seit geraumer Zeit beschäftigt: Wie hätte ich mich
nicht
in Sie verlieben können, Miss Maudsley?
Ihr unbekannter Bewunderer sollte sich vielleicht einmal mit Thomas unterhalten. Der könnte ihm diese Frage sicher beantworten. Und Lord Trent ebenso.
Was
stimmte
denn bloß nicht mit ihr? Vor dem Altar sitzen gelassen zu werden – und das schon zum
zweiten Mal!
Gwen ließ den Brief sinken und starrte blicklos zum Fenster. Sie musste einen schrecklichen Makel an sich haben. Das war die Schlussfolgerung, die nahelag.
Aber diese naheliegende Schlussfolgerung ergab keinen Sinn! Es war doch nicht unbescheiden, wenn sie selbst sich für leidlich hübsch hielt, für halbwegs charmant und von allen gemocht. Darüber hinaus hatte sie alles richtig gemacht. Wirklich alles! Sie hatte jede Regel beachtet. Hatte über Beleidigungen gelächelt. Hatte alle diese snobistischen Drachen für sich eingenommen, die sie wegen ihrer nicht standesgemäßen Herkunft bekrittelt hatten. Sie hatte jedes zweite Glas Wein abgelehnt! Hatte das Radfahren aufgegeben, weil es die Röcke zerriss, hatte sich zurückgehalten, in Gesellschaft zu singen, hatte sich auch nicht an ausgelassenen Gesellschaftsspielen beteiligt. Sie hatte Miesepeter aufgeheitert und schroffe Antworten geschluckt, hatte schlechte Laune verziehen und niemals – kein einziges Mal! – den Namen des Herrn missbraucht. Sie hatte in drei Wochen dreißig Taschentücher bestickt! Als sie damit fertig gewesen war, hatte die Stickerei sie noch bis in den Schlaf verfolgt.
Und wofür?
Gewiss nicht für das, was heute geschehen war.
Der Knoten in ihrer Kehle schnürte ihr schon wieder die Luft ab. Na schön, wenn sie weinen wollte, dann würde sie um ihre Eltern weinen. Sie hatten so vieles aufgegeben, um ihr alle Chancen zu sichern! Sie hatten sogar
sie
dafür hergegeben. Nachdem Gwen zur Schule geschickt worden war, waren die Briefe und Ferien alles, was sie von ihren Eltern noch gehabt hatte – immer viel zu kurz und niemals genug. Sie hatten gesagt, dass sie sich ein anderes Schicksal für ihre Tochter wünschten, als sie selbst es gehabt hatten. Als Erwachsene zu Reichtum gekommen, hatten ihre Eltern alle alten Freunde verloren – einige von ihnen hatten sich mit ihnen nicht mehr wohlgefühlt, andere hatten versucht, sie auszunutzen. Aber neue Freunde von ähnlich großem Vermögen waren auch nicht geblieben. Ihr Auftreten und ihre Gewohnheiten, ihre Ansichten und Interessen waren zu verschieden gewesen, um wahre Freundschaft möglich werden zu lassen.
Diese Erfahrungen waren für Gwens Eltern eine Lektion
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