Suche nicht die Suende
sie ihn nicht sah. Er würde warten, bis sie gegangen war. Ohne Zweifel würde es ihr den Todesstoß versetzen, wenn sie wüsste, dass jemand sie bei ihrem undamenhaften Benehmen beobachtet hatte.
Ein gedämpfter Aufschrei drang an seine Ohren. Alex beugte sich vor. Vermutlich war sie gestrauchelt, hatte sich aber schon wieder gefangen. Die Reisetasche war fast zu groß für sie, um darüber hinwegschauen zu können. Wenn sie sich weiterhin zu sehr auf den Brief zwischen ihren Zähnen konzentrierte, würde sie doch noch fallen, ehe sie den Fuß der Treppe erreicht hätte.
Alex unterdrückte einen Fluch, verließ seinen Rückzugsort und ging zur Treppe. »Kann ich helfen?«
»Oh!« Die Tasche fiel auf ihre Füße. Der Umschlag entglitt ihrem Mund und flatterte beschwingt zu Boden, prallte dort ab und glitt noch einige Stufen tiefer. Er war adressiert, doch Alex konnte den Namen nicht entziffern.
»Alex!« Ihr Blick löste sich von dem Umschlag, der jetzt näher bei ihm lag als bei ihr. Gwen lächelte Alex sehr breit an, was die seltsame Vermutung in ihm weckte, dass sie ihn von genau dieser Tatsache ablenken wollte. »Wie geht es dir heute Nachmittag? Wie schön, dich wieder in London zu sehen!«
So viel gute Laune schien unglaubwürdig – was sogar sie zu bemerken schien. »Ganz gut«, entgegnete er langsam. Ihre Augen waren leicht gerötet. Und jemand müsste ihr wieder Farbe in die Wangen reiben. Aber nicht er. Das würde irgendein Fremder tun, mit einem Titel. Er räusperte sich. »Und wie fühlst du dich jetzt?«
Sie stellte einen Fuß auf die Reisetasche und hob das Kinn. Ihre Haltung erinnerte ihn an die eines Forschers, der die Fahne seines Souveräns in neu erobertes Terrain rammte. »Mir geht es hervorragend.«
Ein Lächeln erschien um seinen Mund. Also wirklich, jemand sollte ihr einen Pokal überreichen.
In Anerkennung Ihrer unermüdlichen Hinwendung an eine grundlos gute Laune.
»Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Zumindest Kopfschmerzen hätte ich erwartet.«
Ihre kastanienbraunen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Oh.« Erst jetzt schien sie sich der Ursache eines möglichen Kummers zu erinnern. »Nun, nicht gerade hervorragend, denke ich. Natürlich nicht. Wie dumm wäre das! Aber es geht mir besser, danke. Ich habe ein Weilchen geschlafen. Schlaf ist sehr erquickend!« Sie sprach schneller und schneller. »Und wie freundlich von dir zu kommen. Ich weiß deine Sorge zu schätzen. Es geht mir schon sehr viel besser. Und natürlich die deiner Schwestern.« Ihre Lider flatterten. »– deren Sorge, meine ich. Ich schätze sie sehr. Ich hoffe, sie sind wohlauf?«
»Es geht ihnen gut«, entgegnete er. Und weil es ihm plötzlich ratsam schien, fügte er auch noch hinzu: »Was ist denn in der Tasche?«
»Oh, die – die Tasche? Nur ein paar …« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. Ihr Haarknoten stand im Begriff, sich aufzulösen. Er hatte ihr Haar bisher nie anders gesehen als streng gezähmt. »Pullover«, sagte sie fröhlich und lachte ein leichtes, scheußlich falsch klingendes Lachen. »Pullover für Lady Miltons Waisenhaus. Sie hat mich darum gebeten, sie heute zu bringen.«
Er hielt jetzt den Mund und hoffte, dass ihr ein kurzes Schweigen die absolute Absurdität dieser Behauptung deutlich machen könnte. Aber in ihrer Miene regte sich nichts; sie sah ihn ernst an. Oder war es Trotz? Nein, dieses Gefühl konnte er nicht mit dem in Einklang bringen, was er von ihr wusste. »Sie ihr bringen«, wiederholte er. »Heute.«
»Ja, heute.«
Ungläubig lächelte er sie an. »Vor oder nach der Trauung? Hat sie einen genaueren Zeitpunkt genannt?«
»Ich weiß, ich hätte einen Diener damit schicken können, aber …« Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Die Waisenkinder, du weißt schon.«
»Nein«, sagte er. »Nein, das weiß ich nicht. Ich kenne keine Waisenkinder, es sei denn, du und ich zählen mit.«
»Verwaiste Kinder.« Offensichtlich sah sie in seinem Gesicht einen Ausdruck von Mitgefühl, das er nicht empfand – denn er bezweifelte, dass diese Waisen überhaupt existierten –, denn sie setzte hinzu: »Ich weiß, es ist ganz schrecklich, nicht wahr? Ich habe für all diese armen Dinger Pullover gestrickt. Für jedes einzelne Kind.«
»Wie rechtschaffen«, sagte er trocken.
Sie schien ihn nicht gehört zu haben. »Und jetzt sind sie fertig, endlich, deshalb dachte ich, ich könnte sie hinbringen und die Freude haben zu sehen, wie die Pullover … verschenkt werden.«
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