Suche nicht die Suende
dubiosen sportlichen Gewohnheiten dafür verantwortlich waren. Alle wussten, dass er jeden Morgen eine Stunde damit verbrachte, herumzuspringen und wie ein wild gewordenes Kaninchen gegen Dinge zu treten. In Frankreich betrachtete man dies offensichtlich als eine Art richtigen Sport, aber schließlich waren die Franzosen an sich schon ein seltsamer Menschenschlag. Wahrscheinlich war Alex einer von den zehn Menschen auf der gesamten Insel, der dieser Nation für etwas anderes als deren Wein Anerkennung zollte. Auf jeden Fall erinnerte sie sich nicht, anderen Gentlemen in der englischen Gesellschaft mit einer ähnlichen Figur begegnet zu sein.
Diese Seltenheit erschien ihr plötzlich sehr bedauerlich.
Alex sagte gerade etwas: »– bleib hier und behaupte dich. Obwohl die Entscheidung natürlich bei dir liegt.«
Sie öffnete den Mund, doch ihre Erwiderung kam nicht, weil ihr unerwartet etwas auffiel: Auf dem Weg von der Halle in die Bibliothek hatte er seine Jacke aufgeknöpft, die sich jetzt noch weiter geöffnet hatte. Sein Bauch unter der dunklen Weste war vollkommen flach. Warum hatte sie das bisher nie bemerkt? Katherine Percy, ihre pferdeverrückte Brautjungfer, würde ihn vermutlich mit einem edlen Rennpferd verglichen haben.
Alex war ganz gewiss ein brauchbarer Vertreter seiner Gattung.
»Gwen«, sagte er. »Geht es dir gut?«
Sie blinzelte. Fragend zog er die Augenbraue hoch. Ein heißes Kribbeln überlief sie, Beunruhigung und Aufregung packten sie gleichzeitig. Wie ein leichtes Mädchen hatte sie ihn angeglotzt. Alex Ramsey, Londons passioniertester Junggeselle. Erstaunlich zu sehen, wie blind einen seine Beschränkung der Auswahl gemacht hatte. Unkonventionelle Frauen mussten entschieden froh darüber sein, dass ihn keine respektable Lady für sich in Betracht zog!
»Mir geht es ausgezeichnet«, erwiderte Gwen. Sie fühlte sich, als hätte eine elektrische Ladung sie gepackt. Welche anderen neuen Dinge würde sie zu sehen bekommen, jetzt, da es sie nicht länger kümmerte, tugendhaft zu sein. »Darf ich den Brief zurückhaben?«
»Ich fürchte, nein.« Er legte eine Hand auf die Hüfte und klopfte auf seine Jackentasche. »Du weißt, dass du das nicht abschicken kannst.«
Die Versuchung war zu groß, ihr zu widerstehen. Sie sah ihn mit einem Augenaufschlag an. »Warum nicht?« Grundgütiger Himmel, zu liebäugeln machte richtig süchtig. Wie hörte man jemals damit auf, hatte man es sich erst einmal angewöhnt? Man könnte tagelang liebäugeln, es gab so viele interessante Dinge. Seine Lippen, zum Beispiel! Was für einen wohlgeformten Mund er hatte. Natürlich hatte sie das schon zuvor bemerkt. Thomas hatte eher schmale Lippen.
Jetzt sprachen seine Lippen. »Aus mehreren Gründen«, sagten sie. »Sicherlich kannst du sie dir denken. Zuerst und vor allem weißt du nicht, was er mit diesem Brief machen wird.«
Alex wüsste, wie man richtig küsste. Unkonventionelle Frauen würden Sabbern nicht dulden. Nur Ladys, die entschlossen waren zu heiraten, tolerierten derartige Demütigungen.
Nicht dass sie ihn küssen wollte, natürlich nicht. Allein dieser Gedanke ließ sie zusammenzucken. Er schien schon so alt, obwohl er genau genommen nur vier Jahre älter war als sie, und – nun, zwei Jahre jünger als Thomas! Thomas schien ihr im Vergleich dazu so jung. Außerdem war er auch nicht so weit gereist wie Alex. Er hatte niemals etwas Schreckliches oder Außergewöhnliches getan (vom heutigen Tag natürlich abgesehen). Er hatte auch kein Vermögen angehäuft (obwohl seine Familie es nötiger hatte als die der Ramseys), hatte weder Argentinien bereist noch Suffragetten den Hof gemacht, denen der Sinn nicht nach Heirat stand. Derart weitläufige und verschiedenartige Erfahrungen machten wahrscheinlich die Aussicht, ein respektables Mädchen zu küssen, um nur einen Bruchteil interessanter als die, gegen eine Wand zu starren.
Und wie war ihre Meinung dazu, Alex zu küssen? Er hatte Richard so nahegestanden, dass es so wäre, als würde sie ihren Bruder küssen!
Nun ja, nicht genau so. Aber vermutlich würde Alex denken, sie zu küssen sei, wie eine seiner Schwestern zu küssen.
Plötzlich fühlte sich Gwen nervös. Was dumm war. Es war doch nur Alex – rüde, amüsiert und herablassend wie immer.
»Gwen«, sagte er gedehnt. »Versuch, mir zuzuhören. Soll ich langsamer sprechen?«
»Ich habe dich gehört«, sagte sie. »Du hast mich gefragt, was er wohl mit dem Brief machen würde. Ich denke, er wird
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