Suche nicht die Suende
Stirn. »Was ist los? Plagt dich etwas? Musst du weinen? Es ist noch nicht zu spät umzukehren.«
Es gelang ihr zu lächeln. »Doch, das ist es.« Der Bahnsteig flog bereits vorbei. Paris lag hinter ihnen.
»Die nächste Station also. Ich komme auch allein mit Barrington klar.«
»Nein«, sagte sie schnell. »Und ich hatte nicht vor zu weinen. Es ist nur –« Sie warf einen Blick auf seine verschlossene Miene und schluckte ihre nächsten Worte herunter.
Es ist nur so, dass du ziemlich einschüchternd bist,
hatte sie sagen wollen. Alex war heute Nachmittag in das Hotelzimmer gekommen und hatte sich neben Elma gesetzt. Mit ernster Würde hatte er sowohl ihr Beharren darauf ignoriert, dass er gehen solle, als auch ihre Drohung, ihn vom Sicherheitsdienst hinauswerfen zu lassen. Er hatte ihre Hand genommen und sie kleinlaut aufgefordert, ihm seine Sünden aufzuzählen. Kleinlaut! Gwen hatte Alex noch nie zuvor kleinlaut erlebt.
Natürlich zögerte Elma nicht, eine Salve von Klagen über seinen dunklen Charakter und seine schreckliche Wirkung auf ihr Mündel abzufeuern. Er nickte lediglich, drückte ihre Hand und murmelte mitfühlend, dass er ihr absolut zustimme.
Gerade als es für Gwen so ausgesehen hatte, als würde sie zurück nach London geschickt werden, hatte Alex sein Bedauern darüber geäußert, wie belastend sein Benehmen für Elma gewesen sein musste. Diese Einsicht hatte das Gespräch dann völlig vom Kurs abgebracht, denn danach hatte es sich um andere Themen gedreht. Welch schweres Leben es bedeutete, undankbaren Menschen verpflichtet zu sein; die nie endende Angst, in der Gesellschaft möglicherweise das Gesicht nicht zu wahren – und über die beklagenswerten Ungerechtigkeiten, denen schöne Frauen eines gewissen Alters unterworfen waren. Ein weiterer seiner Konversations-Taschenspielertricks hatte dann den Fokus auf Mr Beecham gerichtet. An diesem Punkt war Elma in Tränen ausgebrochen und an Alex’ Schulter gesunken, während er ihren Arm getätschelt hatte.
Genau genommen konnte sich Gwen nur einer Sache sicher fühlen: Am Ende dieses Gesprächs war Elma davon überzeugt gewesen, diejenige zu sein, die Erholung brauchte. »Von
jeglicher
Verpflichtung, die Sie belastet«, hatte Alex erklärt. »Gwen eingeschlossen, natürlich.«
Jetzt saß Elma vier Wagen vor ihnen und befand sich auf der ersten Etappe ihrer Reise an den Comer See, der im Norden Italiens lag. Bevor sie abgereist war, hatten Alex und Gwen ihr wiederholt schwören müssen, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über ihre Spritztour zu verraten, vor allem nicht Mr Beecham. Die drei planten, sich in fünf Tagen in Marseille zu treffen.
»Ich war nur …« Gwen verstummte. »Es war eine sehr plötzliche Abreise. Ich bin ein wenig – durcheinander, merke ich.«
»Hmmm.« Er schien das zu akzeptieren. »Vielleicht brauchst du etwas zu essen.«
Der Waggon, den Alex gebucht hatte, bot drei Schlafabteile und einen kleinen Salon, in dem auch das Essen serviert wurde. Das Angebot war weitaus beeindruckender als das, was ihnen die englische Bahn geboten hätte: Zuerst kamen die Hummerkrabben, Radieschen und gekühlte Marennes-Austern, begleitet von einem Madeira. Der Hauptgang, der in einer Stunde aufgetragen werden würde, sollte aus geschmortem Rebhuhn mit einer Beilage aus Greyerzer Käse und Salat à la romaine bestehen. Zum Dessert wurde ihnen eine Auswahl an Früchten, Kaffee und Cognac angekündigt.
Es versprach, ein langes Abendessen zu werden, bei dem Gwen versuchen musste, Alex nicht in die Augen zu sehen.
»Es reicht jetzt«, sagte er, nachdem die Hummerkrabben serviert worden waren. »Irgendetwas belastet dich. Wenn du deinen Entschluss bedauerst, dann
sag
es mir doch. Ich kann dich in Lyon in einen Zug setzen, der dich zurückbringt.«
»Mich belastet nichts«, versicherte sie zum fünften Mal und starrte unverwandt aus dem Fenster. Sie fuhren an einer atemberaubenden Landschaft vorbei: alte Herrenhäuser, erbaut auf Berghängen, die im zinnoberroten Sonnenuntergang leuchteten; Wälder, die unerwartet auftauchten und das Abteil in eine Dunkelheit tauchten, die nur von dem dämmrigen Licht einer einzigen Lampe über ihnen durchbrochen wurde; und dann, wenn die Wälder wieder wichen, kamen weite Felder mit Sonnenblumen, hinter denen in der Ferne kleine Städte lagen, Kirchtürme und die Ruinen zerfallender Schlösser, so malerisch wie aus einem Märchen.
Gwen fühlte sich seltsam gespalten – einerseits lebendig
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