Suche: Roman
Telefon, wurde aber nach zweimaligem Klingeln automatisch umgeleitet. Tom Andreassen hatte heute Abend Bereitschaftsdienst. Sie fühlte ein leicht schlechtes Gewissen. Sie waren unterbesetzt, und dass ein Polizist und ein Umweltbeauftragter fehlten, das zehrte so langsam an den Kräften der anderen Beamten. Außerdem hatten sie einen PR-Beauftragten, der mehr auf dem Festland als auf Spitzbergen war. Tom hatte viel zu viel zu tun, da er nicht nur den Leiter der Polizeiabteilung vertrat, sondern auch noch einige der Polizeiaufgaben in der Umweltbehörde übernahm.
Anne Lise Isaksen fiel das Gespräch mit dem Rentierforscher vom Norwegischen Polarinstitut vor einer Woche wieder ein. Sie mussten endlich etwas tun. Der Forscher hatte es deutlich eingefordert. Wenn die Regierungsbevollmächtigte seinen Bericht über mögliche Rentierwilderei nicht endlich zum Anlass nahm, um zu handeln – er hatte noch keine Anzeige erstattet, weil ihm handfeste Beweise fehlten –, dann würde er zur Spitzbergen-Post gehen. Das Norwegische Polarinstitut würde Alarm schlagen, weil sie der umfassenden Umweltgesetzgebung nicht folgten, die von den meisten Politikern auf dem Festland unterstützt wurde.
Sie seufzte. Der Rentierforscher war der Meinung, das illegale Abschlachten ginge östlich von Longyearbyen vor sich, vielleicht auch nördlich. Er war der Meinung, dass es inzwischen hell genug war, um den Hubschrauber für einen Erkundungsflug loszuschicken. Das Blut müsste als schwarze Flecken auf dem Schnee zu sehen sein, wie er sagte. Aber wen sollte sie losschicken? Es musste wohl der neue Beamte sein, Hanseid. Er erschien kompetent und entschlossen. Der Rentierforscher musste natürlich auch dabei sein, um die Herde zu lokalisieren.
Sie blätterte unkonzentriert in dem Aktenstapel. Vor einigen Wochen hatte sie alles in drei schwarze Plastikkisten sortiert mit der Aufschrift »Eingang«, »Ausgang« sowie »In Bearbeitung«. Aber jetzt waren diese Kisten unter der Last all der eingegangenen Post kaum noch zu sehen. Vieles konnte weggeworfen, einiges zurück ins Archiv geschickt werden, anderes konnte sie an Tom Andreassen weiterleiten. Sie wusste selbst, dass er es dann wiederum weiter an Knut Fjeld gab, der aufgrund seiner Frostschäden an den Füßen möglichst viel Büroarbeit übernehmen sollte, zumindest vorläufig. Und Knut war gnadenlos effektiv. Nachdem er die Stapel durchgearbeitet hatte, gab es nicht viel, was noch eine weitere Bearbeitung erfordert hätte.
All die vertrauten Hintergrundgeräusche verstummten nach und nach. Sie fühlte eine leichte Angst in sich aufsteigen. Vor den Fenstern war Wind aufgekommen. Ab und zu warfen die Windböen Wolken eines Eis- und Schneegemischs knisternd gegen die Fenster. Die Straßenlaternen unten am Kai waren nur als unscharfe Lichtflecken zu erkennen. Große Schneewehen hatten sich auf den Wegen gebildet. Sie stand auf und zog die Gardinen zu, und gleich wurde es gemütlich warm im Büro. Aber der Büroleiter hatte ihre Zimmertür nicht geschlossen, und auf dem Flur draußen malten sich dunkle Schatten an den Wänden ab.
Sie erschauerte und zwang sich, nicht daran zu denken, dass sie in dem großen leeren Gebäude ganz allein war. Zeit, nach Hause zu gehen. Jetzt musste erst einmal genug sein mit Aufräumen. Die Reste der Papierstapel konnte sie morgen noch durchsehen. Außerdem musste sie zusehen, dass sie mit dem Auto nach Hause kam und sich nicht im Schnee festfuhr, der sich gern unterhalb von Skjæringa quer über die Straße legte.
Sie legte einen Stapel Dokumente zurück in die Kiste für noch zu erledigende Post und stieß dabei gegen einen anderen Stapel, der zu Boden fiel. Verärgert hockte sie sich hin, um alle Papiere aufzuheben, und blieb mit einem Stapel Briefe in der Hand sitzen. Sie las den Notizzettel, der auf ihnen klebte. Tom hatte ihn beschriftet. »Wahrscheinlich nur irgendein Quatsch, den uns so ein Spaßvogel geschickt hat«, hatte er geschrieben. »Nichts Konkretes. Zu wenige Informationen, um dem nachzugehen. Ich unternehme nichts, bevor ich nicht etwas von dir höre. Wie du siehst, sind die Umschläge nicht gestempelt, müssen also in der Rezeption abgegeben worden sein. Aber die Sekretärin kann sich nicht erinnern, sie entgegengenommen zu haben.«
Die Umschläge waren an den Briefen befestigt. Sie lagen zuoberst und verdeckten teilweise den Text auf dem obersten Blatt. Nicht, dass besonders viel auf jeder Seite stand. Sie hob den Umschlag hoch.
Weitere Kostenlose Bücher