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einer Weile zog sie schließlich doch die Stiefel wieder an und machte sich auf den Weg. Sie kam gar nicht auf die Idee, auf Erik zu warten, um gemeinsam mit ihm nach Hause zu gehen. Er war nicht mehr wichtig. Dort, wo vorher die Gefühle für ihn gewesen waren, seit der Zeit, als sie sich getroffen, näher kennengelernt und schließlich geheiratet hatten, da war nur noch eine kalte Leere.
Sie ging an der Kirche vorbei, auch wenn es in der anderen Richtung kürzer gewesen wäre, über die Brücke. Aber sie hatte keine Eile, nach Hause zu kommen. Nach einer halben Stunde beharrlicher Wanderung wie ein Automat die leere Straße den Gebirgshang hinauf, kam sie an dem alten Friedhof vorbei. Die kleine Gruppe zugeschneiter weißer Holzkreuze stand krumm und schief da. Ihr fiel ein, wie hoffnungsvoll sie gewesen war, als sie nach Spitzbergen gekommen war. Aber jetzt war alles in ihr tot und still. Und es war noch keine neue Frøydis geboren, die den Platz dort in der Dunkelheit hätte einnehmen können.
Sie ging die Straße bis ans Ende entlang, wo sie sich teilte. Da es ein Freitagabend war, begegnete sie einigen Menschen, die auch unterwegs waren. Aber keiner von ihnen bemerkte Frøydis. Niemand winkte, grüßte oder sagte etwas. Sie registrierten sie gar nicht, obwohl sie direkt an ihr vorbeigingen.
Frøydis hatte bisher noch nie jemanden gehasst. Sie wusste nicht, wie heftig so ein Hass sein kann, kannte diese heiße Welle nicht, die im Bauch entstand und sich in der Brust bis hinauf in den Hals ausbreitete. Sie hatte keine Ahnung, dass so ein Gefühl, das sie bisher mit Machtlosigkeit und Verlust assoziiert hatte, so bestimmend sein konnte. Ihr war, als liefe sie auf glühenden Kohlen.
Aber niemand bemerkte, dass sie stolperte und dennoch immer schneller die Straßen entlanglief, bis sie in der kalten Luft schmerzhaft nach Atem schnappen musste.
Tom Andreassen wurde telefonisch von jemandem alarmiert, der gesehen hatte, wie sich eine Person ganz oben in Lia merkwürdig benahm. Er schüttelte resigniert den Kopf, seiner Frau zugewandt, die gerade ins Wohnzimmer gekommen war, nachdem auch das Letzte der Kinder endlich eingeschlafen war. Sie war in Longyearbyen aufgewachsen und lächelte, als er ihr erzählte, weshalb er gerufen wurde. »Das muss aber sehr merkwürdig gewesen sein, wenn deshalb jemand anruft. Meine Güte, schließlich ist es Wochenende. Das glaubst du, Tom? Jemand, der in dieser Kälte nackt herumspringt?«
Er schaute sie zärtlich an. »Ich bin zurück, so schnell ich kann. Bestimmt ist es jemand, der einen über den Durst getrunken hat und nicht weiß, wo er ist. Der Nachbar hat einen Schatten gesehen, der um eines der Häuser herumlief, und es sieht so aus, als hätte er durch die Fenster geguckt. Und der Nachbar sagt, dass niemand zu Hause ist, deshalb … Vielleicht versucht ja jemand einzubrechen? Jedenfalls fand er es ziemlich ungewöhnlich.«
»Ja, ja.« Sie setzte sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. »Aber beeil dich. Gleich fängt ein Film mit Clint Eastwood an – Play misty for me. Hast du den schon gesehen?«
Als Tom Andreassen zu dem besagten Haus kam, war der suspekte Schatten verschwunden. Der Anrufer kam in Hausschuhen vor die Tür, die Winterjacke über den Schultern. Er war verlegen, zeigte aber auf die tiefen Spuren im Schnee.
»Wer wohnt denn da?«
»Da wohnt sogar ein Polizist. Hast du das nicht gewusst? Erik Hanseid und seine Frau.« Der Anrufer war eifrig bemüht, seinen Anruf zu rechtfertigen.
»Aber warum sollte jemand versuchen, bei ihm einzubrechen? Hast du früher schon mal jemanden hier am Haus beobachtet?« Nein, das hatte der Nachbar nicht. Dafür glaubte er jedoch gesehen zu haben, wie jemand das Haus von Tor und Line Bergerud weiter unten auffällig genau gemustert hatte. Beide überlegten, was das zu bedeuten haben mochte, doch dann begann der Anrufer zu frieren und wollte zurück ins Haus.
Tom Andreassen ging die Straße hinunter, um nach möglichen Personen Ausschau zu halten, die sich verdächtig verhielten, doch er konnte niemanden entdecken. Es war ganz still. Ein paar Schneeflocken rieselten aus der Polardunkelheit herab. Die Schatten zwischen den Straßenlaternen waren tiefschwarz. Sicherheitshalber fuhr er noch einige Seitenstraßen ab und schaute sich dort um.
Als er endlich den schwarzen Dienstwagen vor dem Reihenhaus parkte, in dem seine Familie wohnte, war es bereits halb eins geworden. Vorsichtig schlich er sich die Treppe hinauf,
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