Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
dem Tod sehnte.
ZWISCHENSCHREIE
UND NOTWEHR
UNSERE NEUEN HELDEN
Heiligenlegenden sind wieder im Schwange. Nicht von standhaften Christenmenschen, die sich von heidnischen Löwen verschlingen lassen, erzählen die Märchen, nein, der moderne Heilige ist der professionelle Fotograf. Schneidig tritt er vor abgrundtiefes Grauen und hält fest, wo bestialisch geschlachtet, gevierteilt, verhungert und verdurstet wird. Nicht vor Massenmorden und Massengräbern weicht er zurück, ihn peitscht nur ein Verlangen: der Welt den Spiegel vorhalten!
Entweder sinkt man in die Knie vor so viel selbst proklamierter Rechtschaffenheit oder man muss grinsen. Als wüssten unsere trägen Herzen nicht schon längst, wie es in der Welt zugeht. Als wäre das nächste Stern -Foto das rechte Medium, um uns die Trägheit auszutreiben. Nach den Millionen blutverschmierter Bilder, die bereits durch den Kopf des modernen Menschen geflutet sind, sollten wir schon vor langer Zeit aufgehört haben, den anderen beim Morden und Schlachten zuzuschauen. Denn ein Foto betrachten heißt auch: Ich schaue zu.
Dass sich gleichzeitig bei diesem Akt das beruhigend warme Gefühl von Entrüstung einstellt, die unverrückliche Gewissheit, ein mitfühlender Erdenbürger zu sein, der rastlos und entschieden auf der Seite der Entrechteten steht, dieser wunderbar kostenlose Nebeneffekt macht es so verdammt schwer, die tatsächliche Wucht eines Fotos aufzuspüren. Jenseits von allem Betroffenheitsgestammel.
Ich erinnere mich an einen alten Palästinenser, der 1948 aus seinem Dorf gejagt wurde und zu dem ich sagte: »Ich habe Fotos von der Vertreibung Ihres Volkes gesehen, ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist.« Und der Alte, wutflammend: »Einen Dreck können Sie. Ein Foto ist ein Foto und eine Vertreibung eine Tragödie.«
Ryszard Kapuscinski, unser aller (kürzlich verstorbener) Reporter-Urvater, hat einmal notiert, wie ihm während eines Flugs das viele Rascheln auffiel. Businessmen beim Illustriertenrascheln, beim gefassten Blättern durch einen Völkermord, den Lebenslauf einer Sportskanone, die letzte Brustvergrößerung von Pamela Anderson, das Geschnatter einer (leider nicht verstorbenen) Paris Hilton, die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Gen-Biologie, das Gesumse der Kreationisten vom Himmelsvater im Himmel.
Der Verdacht drängt sich auf, dass uns Fotos deshalb so gut gefallen, weil sie unserer Faulheit Vorschub leisten. Übermütig reden wir uns ein: »Foto gesehen, Wirklichkeit verstanden!« Die Mühsal des Lesens, des Nachlesens, des Denkens, des Zusammenhänge-Begreifens haben wir uns gespart.
Schmerzhaft konkret: Vor einiger Zeit sah ich das bekannte Foto von James Nachtwey, das einen jungen Tutsi zeigt, dessen Gesicht mit einer Machete schwer misshandelt wurde. Wie eine Stacheldrahtspur zieht sich die genähte Wunde über sein Profil. Ich legte das Foto zur Seite und fragte mich, was ich jetzt gelernt habe, was an Weltwissen mir vor dem Betrachten dieses Fotos fehlte. Dass die einen den anderen bisweilen Ungeheures antun? Ein alter Hut. Sonst noch was? Eher nicht. Der Fotograf machte sich nicht einmal die Mühe, den Namen des Verwüsteten zu nennen. Ich sehe einen gedemütigten Menschen und kann nichts über ihn sagen. Wie geschah es? Wie heißen seine Folterknechte? Kannte er sie? Sind sie gefasst? Was trieb sie in diesen Wahnsinn? Wie geht der Junge mit dieser Wunde um? Wird er je wieder verzeihen können? Ganz schön schamlos, einen so auszustellen und so wenig von ihm wissen zu wollen.
Da gehe ich lieber die herrischen Nackten von Helmut Newton anschauen. Der Meister meinte noch kurz vor seinem Tod, dass er lieber die Reichen und Schönen fotografiere. »Die Armen belichten halte ich für zynisch.« Das hat was.
Über die Bilder des Kriegsfotografen Jones-Griffiths wird gesagt, dass sie »dessen Empörung über den Krieg zeigen«. Das erinnert mich an ein Poster über einem Hauseck in San Francisco: »I am against Aids!« Hopefully, kann man da nur sagen. So ähnlich pathetisch klingt der Hinweis, dass sich ein Fotograf über den Vernichtungskrieg in Vietnam empört. Wir empören uns gleich mit und halten – nach den Momenten der Ergriffenheit über uns selbst – inne und schauen uns zu. Fragen uns, einen Tag später: War ich vierundzwanzig Stunden lang ein versöhnlicherer Zeitgenosse? Nachsichtiger? Weniger lüstern auf Streit? Großzügiger? Oder war ich wieder nur der honorige Empörer, der noch nie auf die Idee kam,
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