Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
dass der Zustand der Welt mit seinem eigenen Umgang mit ihr zu tun hat?
Immer wieder wird die berühmte Aufnahme – noch ein Bild aus Vietnam – von Eddi Adams zitiert, die den Polizeichef von Saigon zeigt, der auf offener Straße einen Gefangenen exekutiert. Per Kopfschuss. Schlechtes Beispiel, um von den hehren Taten der Fotografie zu berichten. Denn die story behind the story geht so: General Nguyen Ngoc Loan führte den als Vietcong verdächtigten Mann höchstpersönlich aus dem Hauptquartier auf die Straße: weil dort Journalisten und Fotografen standen. Er brauchte ein Foto von der Exekution. Zur Abschreckung. Adams hat es geliefert.
Schwer zu sagen, ob Bilder Grauen verhindern oder es fördern. Für beide Ansichten gibt es kluge Argumente. So mancher Fotojournalist – aus Ruhmsucht?, aus Unbedarftheit? – »hilft« gern mit, um zur rechten Zeit zum rechten Bild zu kommen. Er ahnt, dass sein Auftauchen (oder Dableiben) den einen oder anderen Mörder in seiner Mordlust beflügelt. Auch unter Monstern gibt es Blitzlichtluder, die gern ein Erinnerungsfoto aufs Nachtkästchen stellen.
Noch eine ewige Wahrheit: Immer wieder heißt es, dass nur der »bewegende Bilder machen könne, der sich selbst vom Leid vor der Kamera anrühren lässt.« Das ist einer der wackersten Sätze, die uns von den Aufrechten erzählen, die Fotografen wurden. Ezra Pound war ein ideologisch rechter Windbeutel und ein genialer Dichter. Und Marilyn Monroe ein herzenswarmes Weltwunder und eine mäßig begabte Schauspielerin. Nicht anders bei Fotografen. Charakter und Talent haben nichts, absolut nichts miteinander zu tun. Den obigen Hinweis, dass uns einzig der Gutmensch mit seiner Kamera heimleuchten kann, löschen wir. Auf ewig. Ein Könner – ob Menschenfreund oder Fiesling – kann Fotos zaubern, die uns für den Rest unserer Tage Alpträume verschaffen. Unsäglich belanglos dabei, ob er tränenüberströmt oder eiskalt auf den Auslöser drückte.
Ein letzter Reality Check. Wieder las ich die Mär, dass Fotograf Kevin Carter »für seine Arbeit einen hohen Preis zahlte«. Denn wenige Monate nach dem berühmten Foto mit dem toderschöpften Kind und dem lauernden Geier (Sudan) setzte er seinem Leben ein Ende. So die Logik des zitierten Satzes. Nun, ich habe Carter in Südafrika kennengelernt, geradezu tollkühn klingt die Behauptung, er wäre der »Situation (damals im Sudan) nicht gewachsen gewesen«. Kevin war ein feiner Kerl, splendid, verrückt, mutig. Und er war ein Heroinjunkie, notorisch pleite, ein Weltverzweifler, einer, der schon fünfzehn Jahre den Gedanken aushalten musste, sich eines Tages umbringen zu wollen. Nach dem Erhalt des Pulitzerpreises für dieses au ßer gewöhnliche Foto ging es ihm noch schlechter. Denn er konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Jeder Auftraggeber forderte ab sofort die sensationellsten Bilder. Dieses »Versagen« trieb den Dreiunddreißigjährigen schließlich in den Pick-up, um sich zu vergiften.
Das Angenehmste an Kevin war, dass man ihn nie schwadronieren hörte: »Ich will der Welt den Spiegel vorhalten.« Ich fragte ihn einmal nach dem Sinn seines Tuns und Kevin, staubtrocken: »Just to make some fuckin’ good pictures.«
DIE ZEITSPENDER
Das Regime in Peking schießt gern die Verbrecher des Landes über den Haufen. (Nein, nicht sich, sondern die anderen Kriminellen.) Die weltrekordartig praktizierte Todesstrafe als Abschreckung. Und Nebenverdienstquelle. Denn die Nieren und Herzen der Füsilierten werden umgehend an die zuständige Mafia verkauft. Die sie gegen einen exorbitanten cashflow den stinkreichen Nieren- und Herzlosen abtritt. Organspender tot, Organhandel schwer lebendig.
Ich bin für sanftere Methoden zu sterben. Das kam so. Vor ein paar Jahren wanderte ich von Paris nach Berlin, zu Fuß und ohne Geld. Irgendwann nach drei Wochen schleppte ich mich durch ein verregnetes Kaff ins Dorfwirtshaus. Mit dem zuletzt geschnorrten Euro bestellte ich einen Kaffee, saß still und beobachtete vier Männer an der Theke, die alle paar Minuten aufwachten, um ein Bier hinunterzugurgeln. Fünfzigjährige mit den Köpfen von Rentnern.
Plötzlich zuckte in mir die Versuchung, auf einen der Toten zuzugehen und ihm einen Deal vorzuschlagen: mir einen Teil seiner restlichen Lebenszeit zu verkaufen. Ich brauchte keine neue Niere, kein frisches Herz, keine andere Leber, alles funktionierte laut Hausarzt einwandfrei. Nur hundert Jahre fehlten mir, wenn ich an all die
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