Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Sehnsüchte dachte, die mich augenblicklich plagten. Ich brauchte Zeitspender. Warum also nicht jemandem ein Jahrzehnt abkaufen, der schon gestorben, ja schon Leiche war, bevor er offiziell begraben wurde? Ist doch egal, ob er hundertzwanzig Monate weniger lang stiert und säuft. Ich gebe dem Säufling einen Batzen Geld (fürs Bedudeln) und er tritt mir das Kostbarste ab, von dem er nie auf die Idee käme, es wäre kostbar: Zeit.
Noch eine Szene. Weit weg und doch so ähnlich: Lange Zugfahrt durch Spanien. Im Abteil saß mir ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Junggreis gegenüber. Er schaute nicht, er las nicht, er fläzte nur im Eck und döste – in der Linken das Handy. Und immer wenn es pfiff – ein anderer Döser meldete sich –, wachte er auf und glotzte auf sein Teil. Da nichts passierte in seinem Leben, auch nicht in seinem Geistesleben , hatte er jedem seine Nummer gegeben. Damit sie sich melden, wenn bei ihnen auch nichts passierte. Es pfiff oft. Ob sie wussten, dass geteiltes Leid doppeltes Leid ist?
Ich merkte wieder, was für ein verdorbener Zeitgenosse ich war. Natürlich wollte ich dem frühreifen Pensionsberechtigten an den Pelz. Um ihn zu erlösen von der Mühsal einer stockfaden Zukunft. Somit mein Vorschlag an ihn: Er tritt mir zwanzig Jahre ab, ich besorge ihm zwanzig Handys, alle superhightech, supersexy, supergeil. Tausend SMS pro Tag, hundert Fotos pro Stunde, zehn Worte Blabla pro Sekunde. Alles umsonst, alles rund um die Uhr, alles erfunden, um den Terror der Ereignislosigkeit auszuhalten.
Natürlich war mein Angebot frivol. Aber sein Leben versaufen, verdösen, verplappern, verglotzen, verwarten? Ist das nicht anrüchig? Nicht die Mutter aller Sünden, nicht die eine unfassbare Todsünde?
MEIN FREUND ANDRÉ
Einst war das Städtchen Sidi Bou Saïd ein Treffpunkt für Schriftsteller und Maler. Flaubert kam, wie Simone de Beau voir und Michel Foucault. Auch August Macke und Paul Klee kehrten mehrmals hierher zurück. Sie blickten auf das Meer, in den Himmel, auf die Welt. Um sich am Licht zu berauschen. Weil hier ein Blau auf die Erde fiel, das zu allen anderen Blaus inspirierte.
Als ich ankam, waren längst die modernen Zeiten ausgebrochen. Dennoch, das tunesische Dorf mit den knapp sechstausend Einwohnern verfügte noch immer über Charme. Die weißen Häuserwände, die hellblauen Fensterläden, das smaragdfarbene Meer am frühen Nachmittag. Trotzdem, die Denker und Künstler hatten längst die Flucht angetreten, denn die gräulichste aller Demokratien ist seit ein paar Jahrzehnten hier ausgebrochen, die – so nennen es die Soziologen – »Demokratisierung des Reisens«. Im Zehn-Minuten-Rhythmus landeten die Busse an, um die Touristen hier abzuladen. Wobei die meisten der Ankommenden sich weigerten, das Wunder zu betrachten, dafür ihre Camcorder und Handys zückten und hartnäckig auf ihren winzigen Bildschirm starrten, ja eiskalt die aberwitzig schöne Welt links (und rechts) liegen ließen. Um sie zu filmen. Als Nachweis für die Daheimgebliebenen, dass sie da waren. Das stimmt natürlich nicht, sie sind hier nur vorbeigekommen, »da« waren sie nicht.
Die Maschinerie in ihrer Hand – irgendein Hundesohn hat dafür das Wort »Kommunikationsmittel« erfunden – raubte ihnen den Blick auf die Wirklichkeit. Ich hätte mein Abendessen gegeben, wenn jetzt auf ihrer Vierzig-Quadratzentimeter-Leinwand ein Satz des englischen Nobelpreisträgers William Golding erschienen wäre: »Heute haben wir wieder viel fotografiert und wenig gesehen.«
Ich schlich durch das Hotel Dar Saïd , wörtlich übersetzt, Haus der Freude. Jeder Buchstabe in diesen drei Worten war wahr. Ein Wunder an arabischer Architektur. Die elegant eingerichteten Zimmer, die Stille, die Schatten, die leuchtenden Bougainvilleen. Vor drei Generationen hatte hier André Gide gewohnt und gearbeitet, auch er ein Nobelgenie, auch er ein Mutmacher. (Und Liebhaber arabisch schöner Jünglinge.) Ich fragte an der Rezeption, ob ich das Zimmer von ihm sehen könnte. Der Mann blätterte im Gästebuch und sagte bedauernd: »Tut mir leid, aber Monsieur Gide ist bei uns nicht abgestiegen. Ein Freund von Ihnen?« Ich nickte, ohne zu zögern, und log voller Ergriffenheit: »Ja, ein Freund von mir.«
Nun, immerhin verschaffte das überrannte Sidi Bou Saïd einen heiteren Augenblick. Auf dem Nachhauseweg kam ich am großen Taxistand vorbei. Ein schwer atmender Mensch rief auf Deutsch einem Fahrer zu: »Meine Mann noch kommen
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