Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
noch.« Und der Tunesier, sachlich und hilfsbereit, rief zurück, ebenfalls auf Deutsch: »Ich warten oder nehmen Frau allein?«
MULTIKULTI
Erinnerung an einen sonnigen Samstag in Ocean Springs. Hübsches Kaff im amerikanischen Bundesstaat Mississippi, direkt am Golf von Mexiko. Es war ein Nachmittag in den frühen neunziger Jahren, als der Kommunismus bereits flächendeckend tot war und ein Teil der hiesigen Bevölkerung beschlossen hatte, dass ab nun die »fags« und die »queens«, die Tunten und die Schwuchteln, die Sündenböcke der Welt sind. Ich marschierte – unterwegs als Reporter – mit den Homos, die an diesem Tag eine Demonstration veranstalteten. Unter schwerem Polizeischutz. Demonstration gegen Beleidigungen, Körperverletzung, ja Mord und Totschlag.
Eine lustige Veranstaltung. Etwa sechshundert Schwule marschierten, während links und rechts der Straße die »straights«, die »Normalen«, die örtlichen Christenmenschen standen, eben all jene, die – verschwitzt streckten sie ihre Poster in die Höhe – vom lieben Gott erfahren hatten, dass hetero sein dem Allgütigen wohlgefiel und schwul sein des Teufels war. Zugegeben, man will sie um die Nonchalance beneiden, mit der die Stiernackigen und Schwerfälligen im Geiste immer wissen, dass a) ein Herrgott über uns weilt und b) eben dieser Herrgott – hoch, hoch über uns – das oder jenes denkt. Man wird den Verdacht nicht los, dass der Herr der Stiernackigen immer wie ein Stiernackiger denkt. Georg Christoph Lichtenberg hat es längst eiskalt aufgeschrieben: »Hätten die Kühe Götter, würden sie wie Kühe aussehen.«
Was haben die Zeilen mit dem Thema zu tun? Alles. Denn Multikulti – das Wort riecht arg nach Latzhose und Birkenstock-Sandalen – lässt sich nicht einfordern. Das menschenfreundliche Nebeneinander verschiedener Kulturen (und sexueller Vorlieben) ist per Gesetz nicht zu verordnen. Nicht von Politikern, nicht von Würdenträgern, nicht von anderen öffentlichen Figuren, die vieles mit sich herumtragen, nur keine Würde. Die folglich um keine Würde für andere bitten können. Nicht für »schwule Säue«, nicht für »Kanaken« und »Schlitzaugen«, nimmer für »Ali« und »Mustafa«. Aufrufe mögen helfen, größere Gemetzel für ein paar Tage zu verschieben. Nie helfen sie, eine vernagelte Dunkelbirne in einen Weltbürger zu verwandeln.
Der Vernagelte kann hundert Jahre bei seinem türkischen Gemüsehändler einkaufen und ihn hundert Jahre umsichtig und höflich Gurken eintüten sehen. Und noch immer wird er fluchen und beten, dass der »Mohammedaner« Leine zieht und Kreuzberg räumt.
Damit aus dunkel hell wird, damit zwei Zeitgenossen aufhören, als Feinde aneinander vorbeizugehen, damit Energie, sprich Wärme und Empathie ausbrechen, wäre ein »Quantensprung« vonnöten. Erst wenn ich – die europäische oder türkische oder Welche-auch-immer-Dunkelbirne – sinnlich, also mit allen Sinnen begreife, dass der andere Mensch mir so ähnlich ist, ein armes Schwein ist, getrieben von Ängsten und dem Hunger nach Leben, erst wenn ich den furchterregenden Gedanken zulasse, dass ich um kein Haarbreit der bessere Mensch bin, erst dann entsteht etwas wie Versöhnung und die Begabung, den anderen zu »sehen«, ihn wahrzunehmen.
Wer diesen Sprung nicht schafft, wer noch im hundertsten Jahr nach einem Watschenmann für seine Holzwege Ausschau hält, der wird leiden wie ein Hund. Denn er ist allein und sechs Milliarden sind seine Feinde.
Invisible man hat der afro-amerikanische Schriftsteller Ralph Ellison sein bekanntestes Buch genannt: Unsichtbarer Mensch. Weil der Schwarze nicht als menschliches Wesen zur Kenntnis genommen wird, sondern – hat er Glück – ausschließlich als Schwarzer oder – wenn kein Glück – als Negro oder Brownie oder Nigger .
Noch einmal zurück nach Ocean Springs. Ich mag Schwule. Nicht weil ich als allzeit verständige Seele die Welt bereise, eher, weil ich selbst einmal versuchte, bisexuell zu werden. Und sanglos scheiterte. Mich seitdem damit abfinden muss, als immer nur Heterosexueller den Rest meiner Tage zu verbringen.
Auch diese private Notiz gehört hierher. Weil Homophobie oft mit der Phobie vor eigenen homoerotischen Anwandlungen zu tun hat. Seine Ängste und Träume zugeben, das wäre ein Weg ins Freie. Denn irgendwo bin ich Krieger, irgendwo bin ich Frau, irgendwo bin ich Macho, irgendwo bin ich Männerfreund, irgendwo ein Loser, irgendwo ein Mensch, der einsieht. Zwei Seelen
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