Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Paris, vehementer angebetet, ja so gerühmt, verklärt und ersehnt. Auf keinen Erdteil gingen mehr Liebesgedichte und Schnulzen nieder als hier.
Graham Greene nannte die Einwohner der Stadt das »einzig auserwählte Volk« und der Patron meines Cafés nennt die Jugendlichen aus den Vorstädten, die Samstagabend in der Hauptstadt einfallen, »la racaille«, den Abschaum. Die Fronten sind also klar, die Auserwählten wollen unter sich bleiben. Deshalb die Haifisch-Mieten. Die Nähe zu Schönheit und – noch teurer – die Nähe zum Geheimnis der Schönheit haben einen exorbitanten Preis.
Wird einer gefragt, wo er wohnt, und er antwortet mit »New York« oder »Berlin« oder »Kioto«, so wird er mehr oder weniger löbliche Kommentare hören. Sagt er jedoch »Paris«, dann entkommt dem Fragenden ein seltsames Seufzen. Auch von denen, die nie dort waren, ja, nie dort sein werden. Ein leises Stöhnen wird hörbar, wie wenn ein Mann von einem anderen Mann erfährt, er habe die letzten drei Nächte mit Charlize Theron verbracht. Paris klingt wie Niagara-Fälle, wie Trance, wie die Aussicht auf ein ganz anderes Leben.
Vor Jahren setzte mich ein Fischer im indischen Varanasi über den Ganges. Und Deva fragte: »Woher kommst du?« Und wahrheitsgemäß sagte ich: »Aus Paris.« Und Deva, der Poet, der nebenbei Fischer war, rief in den Himmel: »What a wonderful country!« Wahrer geht es nicht, Paris ist keine Stadt, es ist ein Land, ein Universum, ein sagenhafter Traum.
Nun höre ich das Murren des Lesers aus Quakenbrück: »Ach, schamlos übertrieben! Auch Paris stinkt irgendwo!« Das hat was, dem empörten Zwischenrufer sei eine Tagebuchnotiz von Salvador Dalí erzählt, der eines Tages in der Pariser Metro einen jungen Mann beobachtete, der seinen Gürtel lockerte und seine ganze Männlichkeit dem Publikum entgegenstreckte. Sofort, so berichtet der Maler, erwachte das gesunde Volksempfinden und der Vorlaute wurde mittels Kinnhaken und Tritten aus dem Waggon befördert.
Das Genie sprach von einer »érection complète et magnifique« und spuckte voller Verachtung auf die Hysterie der Spießer, die brutal einen Zeitgenossen behandelten, der »einen der reinsten und schuldlosesten Akte vollbrachte, deren ein Mann fähig ist in diesen Zeiten der Erniedrigung und des moralischen Abstiegs«.
Als ich von diesem Eintrag erfuhr, war ich sofort auf Seiten des Genies. Als hätten wir keine anderen Sorgen, als harmlos erregte Nackte zu verprügeln. Noch nie habe ich die Massen sich erheben sehen, wenn Greisinnen durch die Metro schlurften, um für ein paar Almosen die Hand auszustrecken. Da sollten wir zu prügeln anfangen. Nicht die Greisinnen, nein, aber den Bürgermeister, seine Schranzen, uns selbst. Ob unserer Hartherzigkeit.
Nun, die Dalí-Episode hat ein Nachspiel, sechzig Jahre später. Denn wie Salvador D. saß ich eines Nachts in der Metro und sah mich plötzlich einem Herrn gegenüber, der nonchalant seine Hose aufknöpfte und grinsend auf sein (eher unerhebliches) Gemächt deutete. Zudem auf halbmast, keineswegs »vollständig und prachtvoll«. Da die anderen zwei Fahrgäste betrunken im fernen Eck lungerten, bildete ich mir ein, dass die Offerte mir galt. Anders als bei Dalí entblößte sich aber kein schöner Jüngling, sondern ein schlecht riechender Dicker. Höchst überraschend reagierte ich wie die Spießer, öffnete bei der nächsten Station die Tür und schob den Ungustiösen hinaus.
Klar, nicht aus moralischen Gründen griff ich ein, sondern einzig aus ästhetischen. Hässliche Nackte in der Öffentlichkeit, das muss nicht sein. So hat die Geschichte dennoch eine Moral. Auch das Volk der Auserwählten sieht entschieden eleganter aus, wenn es bekleidet auftritt. Dann passen die Pariser wunderbar zu Paris. Dann darf jeder ungeniert die Augen öffnen und endlich den Satz von Dostojewski verstehen: »Schönheit wird die Welt retten.« Sicher nicht, aber diesen einen Augenblick lang schon.
REISE INS HERZ
DER DUNKELHEIT
GÜTIGER ALLAH UND HEILIGER VATER
Wer kennt nicht die Situation, eine Zeitung zu lesen und mittendrin innezuhalten. Weil man nicht fasst, was man gerade erfahren hat. Weil man eine Atempause braucht, um sich an das Gelesene heranzutrauen. Reflexartig schließt man die Augen, eine Art psychischer Schutzmechanismus, um den Verstand und den Bauch auf die inneren Druckwellen vorzubereiten.
Ich befand mich in einem Flugzeug Richtung Indien, aus dem Cockpit kam die Nachricht, dass wir uns der
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