Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Ostgrenze der Türkei näherten und bald irakischen Luftraum betreten würden. Unklar, warum der Pilot uns darüber informierte, denn hier oben war es nicht gefährlicher oder ungefährlicher als im Luftraum über Tahiti. Aber das Timing seiner Auskunft stimmte. Ich las gerade in der mitgebrachten Zeitung, dass eine islamische Gruppe in Bagdad einer Geisel den Kopf abgeschlagen hatte. Und dass sie der Welt – jener Welt, die sie noch nicht enthauptet hatte – einen islamischen »Weltstaat« in Aussicht stellte. Die Videoaufzeichnung der Hinrichtung (der Artikel verwies darauf) konnte man folglich nur als Visitenkarte verstehen, als Vorgeschmack einer »kosmischen Ordnung«, in der – so frohlockten die Barbaren – »Allah, der Allgütige« das Kommando übernehmen würde.
Nach diesem Satz schloss ich die Augen. Ich beamte mich in den Kopf des zum Tode durch »das Schwert der Gerechtigkeit« Verurteilten. Eines Amerikaners. Ich wollte wissen, was in ihm vorgegangen war, wenige Minuten, nachdem er das Urteil gehört hatte, und wenige Minuten, bevor sein Leben durch die Hand eines fanatischen Irrlichts zerstört wurde.
Natürlich erfuhr ich es nicht. Wie denn? Man müsste selbst lebensgefährlich bedroht werden, um diese Todesangst zu fühlen. Aber ich spürte die Druckwellen. Lange, denn es gibt Seelenzustände, die wie eine Brandung das Herz überschwemmen. Man kann sich nicht wehren, man kann nur warten, bis sich die Wogen zurückziehen.
War es so weit, las ich weiter. Buchstaben und Sprache hatte ich immer als Bodyguards gegen die Zumutungen der Zeit empfunden. Diesmal nicht. Denn wie vom Teufel choreographiert stieß ich zwei Seiten weiter auf die Meldung, dass der Papst nach Lourdes gereist war, um »das hundertfünfzigjährige Dogma der Unbefleckten Empfängnis zu feiern«. Jenes Dogma, das besagt, »dass die Gottesmutter Maria« – so stand es schwarz auf weiß geschrieben – »auf natürliche Weise, aber von jedem Makel der Erbsünde befreit, empfangen und geboren« hatte. Papst Pius IX. war so frei, dieses himmlische Ammenmärchen unter der Überschrift Ineffabilis Deus (»Der unbegreifliche Gott«) in die Welt zu setzen.
Als ich die Passage zu Ende gelesen hatte, geschah etwas vollkommen Absurdes. Ich musste wohl dermaßen unter Stress geraten sein über die Meldung der Hinrichtung und den Nonsens von erbsündebefreiten Gottesmüttern alias Gottessöhne gebärenden Jungfrauen, dass ich vollkommen unbewusst, ja gehetzt nach vorne zur Titelseite blätterte, um das Erscheinungsdatum der Zeitung nachzuschauen. Für ein, zwei Sekunden war ich unwiderruflich der Meinung, dass es sich um eine Postille aus dem Mittelalter handeln musste. Aus dem Jahr 1046 oder 1293, eben tausend oder siebenhundert Jahre zurück. Ungläubig starrte ich jedoch auf den »16. August 2004«, den heutigen Tag. Wieder schloss ich die Augen, wieder kamen die Druckwellen. Diesmal war es der Idiotismus, der zu einer Pause zwang.
Unfassbar, wir waren bereits im 21. Jahrhundert angekommen und die einen hackten den »Ungläubigen« den Schädel vom Körper, während die anderen – allen voran ein »heiliger Vater« – die Weltpresse wissen ließen, dass der »unfehlbare Stellvertreter Gottes auf Erden« mit seinem Tross nach Lourdes aufgebrochen war. Um eine »ewige Wahrheit« aus dem Jahr 1854 zu bestätigen. Ebenfalls von einem Unfehlbaren verfasst.
Dennoch, nach den Druckwellen schaffte ich irgendwann ein Grinsen. Trotz alledem, trotz namenloser Grausamkeit, trotz höllischer Narretei, die beizeiten umging in der Welt. Und wieder war es die Sprache, die mich versöhnte. Denn zwei Sätze fielen mir ein, die ich an einer Kirchen(!)mauer in Mexiko entdeckt hatte: Was ist der Unterschied zwischen Genie und Dummheit? – Genie hat Grenzen .
EIN MANN MIT FLÖHEN UND ZWEI MÄNNER MIT TRÄUMEN
Auf der Flucht vor der Fußball-Weltmeisterschaft landete ich in Südamerika. Ein widrigeres Versteck hätte ich nicht finden können. Vier Wochen lang dröhnte das Gebrüll aus Deutschland via fünfzig Millionen Fernseher über den Kontinent. Ich gehörte zur Minderheit der beleidigten Würstchen, die griesgrämig mit ansehen (mit anhören!) mussten, wie die Welt von einem Orgasmus in den nächsten delirierte. Da laut Umfragen immer weniger Sex in Mitteleuropa stattfand, war die Lust auf Höhepunkte durchaus verständlich. Diesmal eben als Massenorgie.
Wie es der Teufel will, saß ich an einem verregneten Junitag in einer Kaschemme, irgendwo
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