Süchtig
Bullseye wartete schon an der Gepäckausgabe.
»Du siehst aus wie eine aufgewärmte Leiche«, begrüßte er mich, während er mir einen Laptop hinhielt.
»Wo ist deine Begleitung?«
Er deutete vage über seine Schulter.
Ich bugsierte ihn zur Toilette, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Melodramatische Gesten dieser Art trieben Bullseye stets zur Weißglut. Er fürchtete nur Katastrophen, die mit hoher mathematischer Wahrscheinlichkeit eintreten mussten. Der Gedanke, dass jemand zwei Nullen wie uns verfolgen könnte, die sich am Flughafen von Las Vegas zu einer konspirativen Laptop-Übergabe trafen, lag ihm daher fern.
Aber ich wollte kein Risiko eingehen. Wir zwängten uns in eine Kabine links an der Wand.
»Hier haben wir aber schlechte Chancen«, stellte er fest, als er die Tür hinter sich schloss.
»Wieso das?«
Er quetschte sich auf die andere Seite der Toilette. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab, und am Kinn hatte er Ausschlag.
»Falls du Angst hast, dass uns jemand entdeckt und umbringt, musst du eine Kabine in der Mitte nehmen. Die bietet bessere Fluchtmöglichkeiten.«
Ich hätte nicht sagen können, ob er das ernst meinte.
»Zumindest kann man uns nicht von beiden Seiten belauschen«, gab ich zu bedenken.
»Stimmt.« Dann drückte er mir Andy Goldsteins Laptop in die Hand. »Hier.«
Der Computer sah genauso übel zugerichtet aus wie beim letzten Mal. Ich setzte einen Fuß auf die Toilettenschüssel und drehte den Rechner um.
»Ist alles glatt gegangen?«
»Frag ihn doch selbst.«
»Genau, frag mich selbst, Alter«, meldete sich eine Stimme.
Ich öffnete die Tür.
»Wie sagt man?«, fragte Mike.
Ich schüttelte den Kopf. Mike, der größte Computerfreak des Universums, trug ein Hawaiihemd mit Blumendruck, Shorts und Flipflops.
»Das ist wohl die misslungenste verdeckte Operation aller Zeiten«, schimpfte ich vor mich hin.
Mike hatte aus Bullseyes Hilferuf geschlossen, dass persönliche Betreuung angesagt war – sagte er zumindest. Der tatsächliche Grund für seine Anwesenheit lag jedoch auf der Hand. Mike war sowieso jeden Monat in Las Vegas und verspielte so viel Geld, dass er die Übernachtung im Caesar’s Palace umsonst bekam. Das Casino ahnte nicht, dass er versuchte, die Karten zu zählen. Geld verdiente er mit seinen Ausflügen nicht, dafür lief es nicht gut genug. Aber das war Mike egal.
»Habe ich Zeit für einen Besuch am Spieltisch?«, fragte er.
»Schwerer Fehler«, meinte Bullseye. »Am Automaten sind die Chancen besser.«
»Nicht, wenn man diszipliniert genug ist. Man muss das menschliche Element einkalkulieren. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich am Ende gewinne?«
Bullseye lächelte verzückt. Er hatte eine verwandte Seele gefunden.
»Wollen wir wetten, dass meine Methode erfolgreicher ist? Aber zuerst hinterlegst du deinen potenziellen Verlust auf einem Treuhandkonto, damit der Croupier das Geld gar nicht erst in die Finger bekommt.«
Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte Bullseye noch nie so viel reden hören. Die Gelegenheit war denkbar unpassend. Also unterbrach ich das Geplänkel und erinnerte
die beiden daran, dass sie den Weg des Laptops verfolgen sollten. Bullseye hatte ich bereits eingeweiht, und Mike versicherte mir, er habe die Technik im Griff.
»Falls ich nicht wiederkomme, lasst ihr die Aktion trotzdem anlaufen«, sagte ich.
Zehn Minuten später war ich nach Südosten unterwegs.
Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich Annie wiedersehen sollte, aber meine Gefühle waren gemischt. Zum einen freute ich mich sehr, zum anderen war ich verwirrt und wütend. Ich hatte immer gewusst, dass sie eine dunkle Seite besaß, sonst wäre sie nicht so ausgerastet, als das Stuhlbein brach oder wenn sie von der Arbeit gestresst war. Hatte ich diesen Teil ihrer Persönlichkeit unterschätzt? Nein. Ihr musste etwas Furchtbares zugestoßen sein. Annie brauchte meine Hilfe, und die sollte sie bekommen.
Bei dem Gedanken an Erin plagten mich ebenfalls nagende Zweifel. Sie wirkte verletzlich, aber unkompliziert und zäh. Immerhin hatte sie die Explosion überlebt und war in einen Brandanschlag verwickelt gewesen. Die dicke Haushälterin der Andersons hatte eine Frau an den elektrischen Leitungen arbeiten sehen. Und Erin war dabei gewesen, als das Labor mit den Ratten in Flammen aufging.
Das Handy klingelte.
»Wie lange brauchst du noch, Turtle?«
»Keine Stunde mehr.«
Annie erklärte mir genau den Weg zu einer Wohnanlage am
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