Süchtig
jemandem verraten. Top Secret, verstehst du?«
»So geheim wie die Tatsache, dass ich an der Highschool in allen Faulkner-Bänden der Bibliothek die Zeichensetzung korrigiert habe?«
Sie lachte.
»Annie, wo ist Erin?«
»Der geht es gut. Wir haben sie in Sicherheit gebracht.«
»Wir? Wo ist sie?«
»Bist du in sie verliebt?«
»Nein, Annie, aber sag mir um Himmels willen, wo sie ist.«
»In Sicherheit, das schwöre ich dir. Sie kommt her. Bitte vertrau mir. Nur für kurze Zeit.«
Sie zog mich in die Wohnung. Nicht ganz das Szenario mit strahlendem Sonnenschein und applaudierenden Eichhörnchen, das ich mir vorgestellt hatte.
Die Räume wirkten völlig unpersönlich. Annie führte mich zu einer Couch und wechselte abrupt das Thema.
»Frankreich ist viel einsamer, als in den Reiseführern steht.«
Sie trug eine schwarze Hose und eine genau darauf abgestimmte blaue Bluse. Selbst jetzt wirkte sie wie aus dem Ei gepellt. Nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, spähte sie durch einen Spalt im Vorhang nach draußen und kontrollierte den Bereich vor dem Haus.
Dann zog sie die Vorhänge vollständig zu und ging in die Küche. Ich hörte Töpfe scheppern und Wasser laufen. Dabei redete sie die ganze Zeit.
»Dort habe ich die ersten beiden Jahre nach dem Unfall verbracht. In einem Landhaus in Nordfrankreich, in der Nähe der luxemburgischen Grenze.«
»Und warum hast du mich nicht angerufen, Annie? Wie konntest du mich glauben lassen, dass du tot bist? Hast du im Koma gelegen?«
Sie seufzte. »Bitte, Nat. Ich habe meine Erklärung tausendmal eingeübt und mindestens doppelt so oft wieder verworfen. Ich komme schon noch dazu. Die Sache ist verwirrend, auch für mich und selbst jetzt noch.«
Ich nickte.
Sie seufzte.
»Ich saß stundenlang in einem Schaukelstuhl an einem Fenster, das auf einen kleinen Obstgarten mit Apfelbäumen hinausging. Damit ich nicht in Versuchung geriet, dich anzurufen, zählte ich die Äpfel. Wenn ich durcheinanderkam oder nicht mehr wusste, ob ich einen Apfel schon gezählt hatte, fing ich wieder von vorn an«, sagte sie emotionslos. Plötzlich wurde ihre Stimme traurig. »Es war schwerer zu ertragen als Gefängnis.
Ich war völlig isoliert, verängstigt, einsam. Das ist schlimmer als der Tod. Man ist kein Mensch mehr. Das Leben hat jeden Sinn verloren.«
Annie kam mit einer Edelstahlschüssel aus der Küche.
»Seitdem hasse ich Kalender. Weißt du, warum? Weil man die Seiten nur einmal im Monat abreißen darf. Die Zeit will und will nicht vergehen. In der Küche des Hauses, in dem ich untergebracht war, hing ein Kalender mit Bildern von Desserts – Köstlichkeiten, die sich ›Schokoladenbombe‹ oder ähnlich nannten. Im August war es Eiscreme mit echter Vanille und einer Kirschsauce, die wie Blut aussah. Der Gedanke, dass ich nur einmal im Monat ein Blatt abreißen durfte, trieb mich zum Wahnsinn.«
Sie setzte sich auf den Couchtisch aus Eiche vor dem Sofa. »Ich habe meinen Tod vorgetäuscht, um verschwinden zu können.«
Sie tauchte ein heißes Handtuch in die dampfende Wasserschüssel. Ich hob mein Hemd und hielt die Luft an, als sie das Tuch auf die Wunde presste.
»Als ich vom Boot sprang, dachte ich, ich müsste wirklich sterben. Das Wasser war eiskalt und grundlos und pechschwarz. Ich schwamm unter das Boot. Dort warteten eine Taucherbrille und eine kleine Druckluftflasche auf mich.«
»Eine Taucherausrüstung?«
»Es war gerade genug Luft für zehn Minuten. Man hatte mir erklärt, wie ich beim Tauchen am Mundstück saugen musste. Immer erst saugen, dann schwimmen. Ich konnte deine Stimme hören, aber ich versuchte, sie zu verdrängen. Wenn ihr mich entdeckt hättet, hätte
ich Brille und Flasche fallen gelassen und behauptet, ich wäre über Bord gespült worden. Aber ihr habt mich nicht gefunden. Also schwamm ich zwanzig Meter zu einer Boje, wie wir es geplant hatten. Der Autopilot der Yacht war so eingestellt gewesen, dass wir in der Nähe der Boje vorbeikommen mussten. In drei Meter Tiefe waren an der Kette der Boje Taucherflossen und eine Druckluftflasche befestigt, die durch einen schweren Anker gehalten wurde.«
Ich stellte mir die Szene vor. Annies Freunde, die auf der Yacht nach ihr riefen, während ich im Wasser verzweifelt nach ihr suchte. Wie hatte ich sie übersehen können?
»Das ist verrückt, Annie. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, dass du so etwas versuchst, und schon gar nicht, dass es wirklich funktioniert.«
Sie holte tief Luft.
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