Süchtig
weißt du noch, was du tun sollst?« Wir hatten das nur kurz besprochen, als ich ihm Samantha übergeben hatte.
»Ich bin ein wandelnder Computer. Wer kennt schon außer mir den Slugging Percentage aller Spieler der Black Sox von 1912 auswendig?«
Nur schade, dass es um unser Leben ging und nicht um eine Quizsendung.
»Du musst unbedingt Mike anrufen. Es ist viel verlangt, aber ich bin davon überzeugt, dass er das schafft.«
»Geht in Ordnung.«
Ich legte das Handy weg, griff aber sofort wieder danach. Ein zweiter Anruf stand noch aus: bei Aravelo.
Vielleicht war der Lieutenant gar nicht korrupt. Ich brauchte dringend Unterstützung von offizieller Seite. Aber wenn ich mich irrte? Falls ein Anruf bei Aravelo meine Chancen, Annie wiederzusehen, auch nur im Geringsten beeinträchtigte, war mir das Risiko zu groß.
Stattdessen hörte ich mit dem Agenten-Handy über Fernabfrage meinen Anrufbeantworter ab. Ich hatte nur eine Nachricht: einen Rückruf von Annies Freundin Sarah. Ihre Stimme klang, als wäre es dringend. Ich ignorierte meinen Instinkt und rief sie zurück. Vielleicht steckte sie in Schwierigkeiten. Und wenn ich
mich geschickt genug anstellte, konnte ich möglicherweise sogar etwas Nützliches in Erfahrung bringen.
»Nat? Bist du das? Warte mal.« Sie legte die Hand über die Sprechmuschel und brüllte: »Stell den Fernseher leise! Verdammt noch mal, das hier ist wichtig.«
Sarah hatte sich nicht verändert.
Sie hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, sondern erklärte mir rundheraus, wie beunruhigend sie meine Nachricht gefunden hatte. Ich hätte so merkwürdig geklungen, meinte sie.
»Du klingst selbst ziemlich nervös. Ist alles in Ordnung, Sarah?« Ich hatte nicht die Absicht, mit ihr zu erörtern, wie sich meine Stimme anhörte. Und zu irgendwelchen Fakten wollte ich mich schon gar nicht äußern.
»Was ist los? Du hast gesagt, du wolltest mich etwas wegen Annie fragen.«
»Ja, wegen Annie. Ich sehe Gespenster.«
Eine lange Pause.
»Du bist nie über sie hinweggekommen, stimmt’s?«
»Hast du noch Kontakt zu Glenn Kindle?«
»Ich sehe ihn manchmal. Warum?«
Das Frage-und-Antwort-Spiel war sinnlos. Auf jeden Fall wusste sie etwas. Sie war nervös, wollte aber nicht damit herausrücken.
»Sei vorsichtig, Sarah. Hier geschehen merkwürdige Dinge. Was genau, weiß ich auch nicht, aber sei wachsam.«
»Du machst mir Angst, Nat. Ehrlich gesagt, klingst du … ziemlich eigenartig.«
»Das würde ich jederzeit unterschreiben.«
Wir verabschiedeten uns. Auf der Gegenfahrbahn reihte sich ein Auto an das andere. Während ich in das gleißende Scheinwerferlicht sah, holte ich zum ersten Mal tief Atem. Ich fühlte mich ruhiger. War es das Ritalin oder der Abstand vom Ort der Auseinandersetzung? Auf den Fahrspuren neben mir drängten sich gestresste Pendler. Diese wackeren Kämpfer können sich die Immobilienpreise in San Francisco nicht leisten und müssen daher auf Vororte im Osten und Süden ausweichen, die gerade eben noch nach Feierabend erreichbar sind. Vermutlich hatten sie sich wie ich mit Proviant eingedeckt und sehnten sich verzweifelt nach Ruhe. Rechts von mir fiel mir ein weißer Civic auf. Am Steuer saß eine Frau mittleren Alters mit dichtem, dunklem Haar. Sie musste meinen Blick gespürt haben, denn sie drehte sich zu mir um und nickte verständnisvoll. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße.
Während ich mich seelisch auf die lange Fahrt durch das kalifornische Längstal nach Nevada vorbereitete, schreckte mich das schrille Klingeln meines supergeheimen Agenten-Telefons auf. Es war Bullseye.
»Ich komme«, sagte er. »Aber nicht allein.«
47
Am späten Morgen sah ich in der Ferne den Las Vegas Strip. Er wirkte friedlich wie alle Geschäftsviertel vor dem Einsetzen der täglichen Hektik. Wie jeden Tag schlummerten seine Bewohner um diese Zeit noch und träumten schweißüberströmt davon, was hätte passieren können, wenn sie nur dreißig Minuten früher vom Tisch aufgestanden wären.
Die Stadt baute ihr Angebot immer weiter aus. Ich hatte gelesen, dass das Casino New York – New York kürzlich einen neuen Black-Jack-Tisch aufgestellt hatte, der gleichzeitig als Video-Poker-Automat fungierte. Die Möglichkeit, zwei Spiele auf einmal zu spielen, trieb den Adrenalinspiegel all derer, die gar nicht schnell genug verlieren konnten, in schwindelnde Höhen.
Meine Droge war Koffein. Ich besorgte mir einen Becher konzentrierten Kaffee und fuhr zum Flughafen.
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