Süchtig
Südrand der Stadt, aber ich konnte mich nicht
konzentrieren. Der Klang ihrer Stimme brachte mich völlig aus der Fassung. Obwohl sie eindeutig irdisch war, kam mir die ganze Situation unwirklich vor.
»Hast du verstanden?«, fragte sie.
»Als Tote bist du bestimmt besonders sexy.«
Oh, dieses Lachen!
»Beeil dich. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Als ich wissen wollte, was los war, vertröstete sie mich auf später. Im Augenblick habe sie Wichtigeres zu tun.
»Nathaniel, du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich dir zu erzählen habe.«
48
Mittlerweile war es fast Mittag geworden. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, spürte ich die glühende Hitze. Ich fühlte mich übernächtigt und verschwitzt. Um nicht mehr denken zu müssen, schaltete ich das Radio ein. Als ich den Sprecher hörte, fiel mir wieder ein, was mich im Unterbewusstsein beschäftigt hatte.
»… das zeigt, dass Geld nicht glücklich macht.«
»Vielen Dank unserem Anrufer. Tatsächlich haben wir wieder einmal gelernt, dass Reichtum und Glück nicht identisch sind. Ed Gaversons Selbstmord ist der überzeugende Beweis dafür. Gaverson galt mehrfach als der reichste Mensch in den USA. Er besaß Immobilien, Autos und Yachten. Trotzdem hat er sich – entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise – eine Kugel in den Kopf gejagt.
Meine lieben Hörer, Sie selbst bestimmen, ob Sie glücklich oder unglücklich sind. Depressionen, Störungen des Hormon- und Stoffwechselhaushalts – so etwas kann jeden treffen. Aber Sie sind ebenso fähig, diese Probleme zu erkennen und anzugehen wie der reichste Mann Amerikas. Mehr zu den aktuellen Themen des Tages in unserem landesweit ausgestrahlten
Programm Sizzle Talk. Wie immer waren Sie zu Gast bei Roger Templeton.«
»Haben Sie Probleme mit Arthritis? …«
Ed Gaverson, der Leiter von Ditsoft, einem der größten Softwareunternehmen der Welt, war tot. Einer von Glenn Kindles engsten Freunden hatte Selbstmord begangen. Darauf also hatte Diane McNulty, Kindles Sekretärin, angespielt.
Auf der Suche nach einem anderen Sender und weiteren Informationen drehte ich an den Knöpfen, fand aber nur elektrostatisches Knistern. Nun stand ich vor einer weiteren Frage: Hatte Gaverson selbst den Abzug betätigt, oder hatte das jemand anderer für ihn erledigt?
In Boulder City fuhr ich durch ein bescheidenes Gewerbegebiet zu einer halb leer stehenden Wohnanlage. Als ich auf dem Parkplatz hielt, kam ich mir vor wie in einem wilden Traum. Ich war verschwitzt, aufgeregt und konnte meine Neugier kaum bezähmen. Trotzdem plagte mich eine höchst praktische Sorge. Hatte ich Pfefferminzbonbons eingekauft? Was war mit Kaugummi? Da ich in meinem Vorrat nichts davon fand, warf ich eine Handvoll Lutschbonbons mit Zimtgeschmack ein. Vielleicht verdeckten die den Geruch von Kaffee und Angst.
Aus dem Rückspiegel sahen mir gerötete Augen und ein überraschend buschiger Schnauzbart entgegen. Für einen Augenblick überlegte ich allen Ernstes, noch schnell zum Friseur zu gehen.
Augenblicke später stand ich vor der Tür. Ihrer Tür. Annies Tür. Ich zupfte mit der schweißnassen Hand
eine Blume aus einem Beet und klopfte. Keine Reaktion. Ich klingelte. Nichts. Ich klopfte erneut. Endlich öffnete sich die Tür, und alles war vergessen.
Ich stand vor einer Frau mit aschblondem Haar, die Annies Schwester hätte sein können. Ihre Wangen waren runder, als ich sie in Erinnerung hatte, das Haar war deutlich heller, und die Augen waren blau und nicht braun.
»Tutmirleid,dassessolangegedauert hat«, entschuldigte sie sich. »Ich wollte für dich schön aussehen.«
Ich ließ die Blume fallen und zog sie an mich. Sie schloss mich in die Arme. Wie früher, wenn sie sich Halt suchend an mich geklammert hatte.
Bis zu diesem Augenblick war ich noch nicht völlig überzeugt gewesen. Selbst nachdem ich ihre Stimme gehört hatte, hatte ich nicht glauben können, dass sie tatsächlich am Leben war.
Aber nun gab es keinen Zweifel mehr. Dies war Annie, auch wenn sie nicht ganz so aussah wie die Frau, an die ich mich erinnerte. Endlich hielt ich sie wieder im Arm.
»Bist du Profiringer geworden?«, flüsterte sie lachend, als ich sie fast zerquetschte.
Sie legte mir die Hände auf den Kopf und fuhr mir mit den Fingern durch das Haar. Wie früher.
»Hast du den Laptop dabei?«
Ich wollte sie nicht loslassen, damit sie mir nicht wieder entrissen wurde. Und wenn ich nur träumte? Dann wollte ich auf keinen Fall aufwachen.
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