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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Straub
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einem selbstverfassten Gedicht. An jedem 15. September werden alle Kurz- und Langzeitarbeitslosen, und sogar die Prekären, in die Gesellschaft zitiert, um Blumen niederzulegen vor dem Bildnis von Siegfried Pospischil. Die Langzeitarbeitslosen bringen Chrysanthemen und Gerbera mit, die sie auf dem Friedhof geklaut haben. Die Prekären hingegen bündeln ihre finanziellen Kräfte und treten gemeinsam mit einem schönen Strauß weißer Lilien auf.
    Während sie die Farne gießt, die auf den Fensterbrettern ihre grünen Finger zum Licht strecken, erzählt sie viel und gern. Jede Grünpflanze, die für die Gangway bestimmt sei, müsse erst eine chemische Analyse überstehen, sagt sie zum Beispiel. Da werde geprüft, ob die Pflanze geraucht werden könne – und falls ja, ob sie psychotrope Wirkung zeitige. Da müsse man natürlich aufpassen, sagt Frau Hiltrud. Sie kenne ihre Pappenheimer. Die meisten litten bereits am Steinzungensyndrom , weil sie alles rauchten, was sie zwischen die Finger bekämen.
    Für die Raucher wurde ein Glaskabuff in der Mitte des Gangesgeschaffen. Auf diese Weise ist immer für Abwechslung gesorgt: Die Raucher im Glaskubus betrachten während des Rauchens die Wartenden davor, die Nichtraucher wiederum sehen in das Glaskabuff hinein. Wenn notwendig, verständigen sich Raucher und Nichtraucher mittels Zeichensprache. Manche hier rauchen so viel, dass es beinahe als Arbeit durchgehen könnte.
    Auf den Tischchen in der Gangway legt Frau Hiltrud regelmäßig Regenbogenmagazine aus. Um den Klassenkampf nicht unnötig anzuheizen, achtet sie darauf, Glücksmeldungen über royale Schwangerschaften und herrschaftliche Segelturns herauszureißen und nur jene Berichte freizugeben, die von magersüchtigen Prinzessinnen, tumorverseuchten Fürsten und polygamen Thronfolgern berichten. Dabei können die Langzeitarbeitslosen gut ohne Königshäuser leben. In den Händen meiner Sitznachbarn befinden sich Selbsthilfebücher, deren Titel mit einem Ausrufezeichen enden: Alles wird gut! Verändere Dein Schicksal! Du bist der Schlüssel! Kenne das Geheimnis! Die Kraft wohnt in Dir!
    Sobald ein Langzeitarbeitsloser aufgerufen wird oder mangels Gesprächspartner die Gangway verlässt, setze ich mich rasch auf seinen Stuhl. Meine These lautet: Wo auch immer der Mensch verweilt, lässt er einen Gutteil seiner Gefühle zurück. Gerade in puncto Hoffnung und Angst läuft es im Menschen permanent über, weil einfach zu viel davon da ist. Im besten Fall dockt nun meine Trauer an die übriggebliebenen Gefühle des Langzeitarbeitslosen an und bleibt, wenn ich behutsam aufstehe, an dem klebrigen Trauerstuhl haften. Ich erkläre mir das mit dem Prinzip der Homöopathie: Gleiches mit Gleichem heilen.
    Einmal saß mir eine Frau gegenüber, etwas älter als ich. Alle paar Minuten warf sie einen Blick auf eine digitale Anzeige oberhalb der Tür, auf der die Namen der aufgerufenen Langzeitarbeitslosen erscheinen. Sie schluckte häufig, ihr Kehlkopf bewegte sich wie ein Miniaturaufzug auf und ab. Sie war sehr schlank, viel schlanker als ich, und trug ihre langen braunen Haare offen. Eine schöne Frau. Eine schöne Frau, die beinahe platzte vor lauter Sorgen. Ich weiß nicht, woher dieser Satz kam, und ich verabscheute mich auch ein wenig dafür, aber ich dachte: Deine Schönheit nützt dir hier nichts mehr.
    Als die Frau aufgerufen wurde, wartete ich kurz. Dann setzte ich mich auf ihren Stuhl. Er war noch warm. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Rund um mich waberten die zurückgelassenen Ängste. Zunächst war es unangenehm, ich atmete flach, bis ich erleichtert registrierte, dass sich meine Verzweiflung an der ihren festzukleben begann. Doch da war die Frau schon wieder da und pflanzte sich vor mir auf. Sie wollte ihren Sitzplatz zurück.
    »Sofort. Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich.
    Sie sah mich erstaunt an. »Fertig womit?«
    »Ich meditiere.«
    Sie verzog den Mund.
    »Können Sie das nicht woanders?«
    Ich hatte Bedenken, dass sie mich verpfeifen würde. Dann würde alles ans Licht kommen: dass ich doch bloß eine Kurzzeitarbeitslose war. Dass ich kein Recht hatte, mich hier aufzuhalten.
    Die anderen sahen von ihren Ratgebern auf. Kein Laut drang aus dem Glaskabuff. Alle Augen auf uns gerichtet. Ich erhob mich schwankend.
    Ritus interruptus , ein Unglück.
    »Hopp, hopp«, sagte die Frau. Im Gegensatz zu ihrer äußeren Erscheinung war ihre Stimme unangenehm kratzig.
    Um mich in der Gangway zu etablieren, helfe

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