Südbalkon
Gesellschaft für W. melden, wie ich sie nenne, weil ich, immer wenn ich sie betrete, mich frage, wieso, weshalb, warum ich überhaupt hier bin, und alles, was mir einfällt, ist, dass mir andernfalls die Unterstützung gestrichen würde.
Ich gehe die Przewalskistraße entlang bis zur Bertagasse. Rechter Hand der Schuster, daneben der Secondhandladen. In der Makler-Sprache: 1B-Lage. Randbezirk, passable Verkehrsanbindung. Abgewohnte Gründerzeithäuser mit zerknitterten Fassaden, dazwischen sozialistischer Gemeindebau, Wohnfestungen mit Badezimmer-Luken wie Schießscharten. Mittendrin die grellbunte Auslage des Eine-Welt-Shops, der Dritte-Welt-Shop hieß, als es noch die Dritte Welt gab. Heute wird dort der übliche Schwellenland-Ramsch angeboten, Panflöten und Makramee-Häkeltaschen, Schokolade aus einer Fabrik, die einarmige Inderinnen unterstützt. Eine Welt. Eine große Lüge, denke ich jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, eine widerliche Lüge, schließlich gibt es doch alleine in unserem Wohnhaus mindestens drei Welten.
Die Gehsteige sind mit Radfahrern und Müttern verstopft, ich komme kaum vorwärts. Die Kinder sind unerträglich fröhlich. Ein Mädchen mit geflochtenem Zopf balanciert auf einer Mauer, die den Garten eines Hauses zum Gehsteig begrenzt. Sie hält die Hand ihrer Mutter krampfhaft fest und stößt von Zeit zu Zeit spitze Schreie aus. Die Mutter beobachtet sie mit einem gespannten Lächeln. Ich habe plötzlich Lust, ebenfalls auf der Mauer zu balancieren. Ich könnte einen Passanten bitten, mir die Hand zu reichen, und im selben Augenblick weißich, dass ich mich lächerlich machen würde, vollkommen lächerlich, lächerlich, lächerlich.
Wie jeden Montag wähle ich den Weg, der an der Magenbuch-Klinik vorbeiführt. Ich biege in die Bertagasse ein und durchquere den Kaminsky-Park. Auf Höhe des Café Kurbel kann man durch den Blättervorhang der Kastanienbäume den langgezogenen HNO-Trakt erkennen, dahinter die Kinderstation. Das Krankenhaus liegt da wie eine schlafende Schildkröte. Das erstaunt mich immer wieder: weshalb man es einem Gebäude nicht ansieht, wenn darin ausführlich gelitten wird. Ich erwarte eine flammende Hitze, die von den Mauern abstrahlt, zumindest einen rötlichen Wandausschlag.
Ich beziehe meinen Aussichtsplatz, und das ist ohne Zweifel der schönste Montagsmoment: Wenn ich mich hinter der Büste des Operettenfabrikanten Franz von Suppé verberge, denn dann bin ich nicht Ruth Amsel, dann bin ich nur noch Auge und Ohr, ein einziger Resonanzkörper des Elends, der schwingt und klingt.
Elf Minuten nach zehn. Ich zücke mein Notizbüchlein, das kaum größer ist als eine Kreditkarte, und luge über die Schulter des Komponisten in den Garten der Magenbuch-Klinik. Der Komponist wurde günstig aufgestellt, sein enormer Glatzkopf und die breiten Schultern bilden meinen Schutzwall.
Der Krankenhausgarten tut so, als sei er ein richtiger Garten, dabei ist er eine einzige Beschwichtigung und nur angelegt, um auf den Tod vorzubereiten. Buchsbaum, Immergrün, Ringelblume, Buschwindröschen: Alles, was hier wächst, ist Friedhofsgestrüpp.
In einen Krankenhausgarten hineinschauen ist wie Zukunftsfernsehen, mit den Kanälen Demenz, Arthrose, Zirrhose. EinGreis führt seinen Infusionsständer spazieren. Er macht einen Schritt, dann zieht er das Gestell nach wie einen störrischen Hund. Dazwischen keucht er. Schritt. Keuch. Zieh. Keuch. Einige Patienten wandeln im Morgenmantel die Kieswege entlang und könnten genauso gut Kurgäste darstellen, wenn sie nicht so blass und zerzaust wären und schon nach wenigen Schritten stehen blieben.
Die Frau mit der Turmfrisur ist wieder da. Sie sitzt auf der Bank vor dem Zaun und sieht aus dem Krankenhausareal hinaus. Eine gealterte Marge Simpson, frisurentechnisch der größtmögliche Gegensatz zu Franz von Suppé. In ihrer rechten Ellenbeuge steckt ein rosafarbener Venenkatheter, mit Pflastern fixiert. Sie hält den Arm weit weg von sich, so als gehöre er schon nicht mehr zu ihr. Mit der anderen Hand kramt sie in der Tasche ihres Morgenmantels und fördert eine gelbe Zigarettenpackung zutage. Sie raucht hastig und sichtlich ohne Genuss. Nach wenigen Zügen streift sie die Asche an der untersten Holzsprosse der Bank ab, dafür beugt sie sich nach vorn. In diesem Moment löst sich der Gürtel des Mantels, und zum Vorschein kommt eine dünne fahle Brust, die auf den Bauchfalten liegt wie rohes Putenfleisch. Hinter der Frau patrouillieren zwei
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