Südbalkon
Krankenschwestern im hellblauen Kasack.
Die Frau bemerkt ihr Missgeschick. Sie schnippt die Zigarette durch den Zaun auf den Weg, der das Krankenhausareal vom Kaminsky-Park trennt. Sie versucht, mit der unversehrten Hand den Morgenmantel zu schließen, was nicht gelingt. Sie ruft »Schwester, Schwester!«, ohne den Kopf zu wenden. Sie ruft es aus dem Krankenhausgarten hinaus in den Kaminsky-Park hinein, und ich kauere mich rasch unter der Büste zusammen, weil ich für einen Augenblick fürchte, dass sie mich meinen könnte.
Mit den Händen stütze ich mich am Boden ab, das Gras ist feucht. Auf dem Sockel ist Franz von Suppés vollständiger Name eingraviert: Francesco Ezechiele Ermenegildo Cavaliere Suppé-Demelli, Komponist (1819 bis 1895). Ich rechne nach: Er wäre 192 Jahre alt.
Unter dem Stichwort »Turmfrisur« notiere ich: raucht Parisiennes . Ich habe lange geübt, um im Gehen, Knien und Kauern leserlich schreiben zu können. Ich verwende dazu die blauen Fineliner aus dem Cento-Markt und meine Handinnenfläche als Unterlage. Mit dem Fineliner schreibe ich Morgenmantel: altrosa und Venenkatheter: rosa . Ich stelle mir vor, dass es eine Boutique gibt im Souterrain der Klinik, die Accessoires wie Katheter, Magensonden, Kanülen, Stents und Verbände in allen RAL-Farben anbietet. Medizin-Mode, ein Hoffnungsmarkt.
Als ich mich wieder aufrichte, ist die Frau verschwunden. Der alte Mann mit dem Infusionsständer lehnt an einem Baum, die Augen geschlossen, ein Bein in der Luft, wie eingefroren in der Bewegung. Was hat er vor? Ich habe Lust, ihn zu stützen, seine Haut zu berühren unter dem Morgenmantel. Im Alter trocknet der Mensch aus, er verdorrt und verwelkt, bis schließlich alle Flüssigkeit entwichen ist. Ich stelle mir vor, dass seine Papierhaut knistert. Ein verhaltenes Knistern, wie wenn eine Katze über Seidenpapier läuft.
Ich notiere: Infusion, gelbtrübe Flüssigkeit . Und: womöglich kataleptisch . In der Katalepsie wird eine Körperhaltung unnatürlich lange beibehalten. Ich schreibe: mit Sicherheit bresthaft . Je älter die Patienten, desto altertümlicher die Eigenschaftswörter. Gerne verwende ich auch die Bezeichnung multimorbid . Bei einem Multimorbiden gehen die Leidennahtlos ineinander über, bis man nicht mehr unterscheiden kann, was Originalsymptom ist und was Nebenwirkung der Therapie.
Mit seinem heiteren Operettenfabrikantenblick arbeitet Franz von Suppé beständig gegen die Melodie des Verfalls, die vom Krankenhausgarten in den Kaminsky-Park herüberschwappt. Eine erschöpfende Tätigkeit, die er mit unerschütterlicher Eleganz meistert: Herr Franz trägt einen Frack mit Frackweste, darunter ein Hemd mit Vatermörderkragen. Ich tätschle ihm zum Abschied den Torso dort, wo bei lebendigen Menschen der Arm befestigt ist. Er fühlt sich warm an. Und ich fühle mich deutlich besser – wie immer, wenn mein Leidenskonto mit fremder Währung aufgefüllt ist.
Der Kaminsky-Park mündet in der Lisztstraße. Die Lisztstraße wollte einmal Allee sein, doch die Bäume sind einer nach dem anderen eingegangen, eine Baumepidemie hatte sie hinweggerafft. Eine Zeitlang standen faulende Stümpfe rechts und links der Straße, bis die Stadtgärtnerei Erbarmen hatte und auch die Stümpfe entfernte. Jetzt erinnern nur noch Erdquadrate daran, dass in der Lisztstraße einmal Bäume wuchsen. Es scheint, als ob alle Hunde des Viertels gern in der Lisztstraße spazieren gingen. Sie können hier ganz elegant ihr Geschäft erledigen, ohne dass sich ihre Besitzer genötigt fühlen, die Exkremente aufzusammeln.
Seit der Baumepidemie riecht es streng in der Lisztstraße, ein Gestank, der so gar nicht zum feinsinnigen Komponisten passt. Zum Glück liegt die Straße in der Nähe des Kaminsky-Parks und damit nicht weit von der Büste des Komponistenkollegen Franz von Suppé entfernt. Beide waren nicht nur Zeitgenossen,sie sind heute auch Leidensgenossen und tragen eine Bürde, die ihrer nicht würdig ist: der eine Franz den Krankenhausgarten, der andere Franz den Hundekot.
Ich setze mich auf eine Bank zwischen den Erdquadraten, um über die posthumen Wendungen des Schicksals nachzudenken. Höchstwahrscheinlich ist es einem toten Komponisten zuzutrauen, mit profanen Zumutungen wie Hundewurst und menschlichem Verfall zurechtzukommen, doch ich bin davon überzeugt, dass ein wenig mehr Respekt keinesfalls schaden könnte.
Ein Junge und ein Mädchen führen einen Mops an der Leine spazieren. Der Hund bildet die
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