Südbalkon
Vorhut, in angemessener Entfernung schreiten die Kinder hinterher, denen so gar nichts Kindliches anhaftet. Geschrumpfte Erwachsene, die den Spaziergang mit dem Hund über Gebühr ernst nehmen. Ich hatte vor, mit ihnen zu schimpfen, falls der Mops sich erdreistet, sein Geschäft in der Lisztstraße zu erledigen, doch nun lässt mich ihr arroganter Blick zusammenzucken. Als der Hund an der Bank vorbeitrottet, schnuppert er an meiner Wade.
»Renzo, pfui«, ruft das Mädchen und zieht kräftig an der Leine. Durch den Rückprall öffnet sich sein Maul und entblößt zwei Reihen perfekt zugespitzter Zähnchen. Renzo sieht mich ebenso erstaunt an wie ich ihn. Dabei hätte er mich gern beschnuppern können, von mir aus auch von Kopf bis Fuß. Aber vielleicht hat das Mädchen recht, und ich bin wirklich pfui. Womöglich stelle ich die größere Beleidigung für Franz Liszt dar, und nicht die Hundewurst.
An der Lisztstraße, Ecke Weberstraße, bleibe ich vor der Auslage der Boutique Monique stehen. Ich habe Stoffhunger, möchte Seide, Kaschmir, Viskose zwischen den Fingern fühlen.Zwei Schaufensterpuppen mit spitzem Busen und ultraschlanker Taille präsentieren die neue Herbstmode in Grau- und Beigetönen. Die Puppen sind so dünn, dass die Kleider am Rücken mit Sicherheitsnadeln enger geheftet werden müssen. Sie sehen ebenso arrogant drein wie die Lisztstraßen-Kinder.
Ich habe schon lange keine neue Kleidung mehr gekauft. Wenn ich vom Geld der Gesellschaft für W. etwas abzweige, dann nur, um im Textildiscounter einen Polyester-Fetzen aus der Wühlkiste zu fischen. Dass er aller Wahrscheinlichkeit nach von ausgebeuteten Frauen genäht wurde, irritiert mich, aber nur kurz. Das schlechte Gewissen wäscht sich bei dreißig Grad heraus.
Als ich das Geschäft betrete, würdigt mich die Verkäuferin keines Blickes. »Kann ich Ihnen helfen«, sagt sie irgendwann, und es klingt so, als glaube sie nicht daran. Sie kaut Kaugummi.
Die Boutique Monique hat die Form ein Schlauchs. Die Kleidungsstücke sind nach Farben und Schnitt geordnet. Ich blättere eine Stange mit T-Shirts durch, die mir seltsam eng und klein erscheinen. Die Verkäuferin beobachtet mich mit einem spöttischen Lächeln. Ein Blick auf das Etikett offenbart, dass ich mich in die Kinderabteilung verirrt habe.
Ich schlendere unauffällig ans hintere Ende des Ladens. Dort bin ich nicht allein. Eine Frau betrachtet sich im Spiegel, während sie ein weißes Shirt nach dem anderen vor ihren Oberkörper hält. Nach dem dritten Shirt erkenne ich sie. Es ist Linda Wegrostek. Befriedigt nehme ich zur Kenntnis, dass sie gute fünfzehn Kilo zugelegt hat, die sich ausschließlich in der unteren Körperhälfte angesammelt haben. Ab dem Nabel abwärts wirkt sie grotesk unförmig, ihr Oberkörper mit den kleinenBrüsten hingegen ist zart wie eh und je. Ein Zwitterwesen, an dem jeder Bauch-Beine-Po-Instruktor verzweifeln muss.
Sie tut so, als freute sie sich, und ich tue ebenso. Wir umarmen uns, ihre Wangen sind kühl. Sie erzählt von zwei Kindern, acht und zehn, die beide die Waldorfschule besuchen und später »irgendwas mit Kunst« machen werden. Ihr Mann sei im internationalen Management, er berate Multis, sagt sie, und sie spricht es mit einem lächerlichen französischen Akzent aus. Mülti , sagt sie.
»Und du?«, fragt sie. »Was ist mit dir?«
Sie legt ihren Arm um meine Schulter. »Ich freu mich wirklich ganz unglaublich, dich zu sehen«, sagt sie. Betonung auf ganz .
Diese Zutraulichkeiten kenne ich von Linda nicht, die haben sich offenbar erst im Laufe ihres Erwachsenenlebens ausgebildet. Linda gehörte zur Selma-Bande. Sie war die erste in der Klasse, die einen Freund hatte, und trug täglich frische Designerkleidung. Ich bat den lieben Gott, er möge mich endlich meinen wahren Eltern zuführen, damit ich es mit Linda aufnehmen könne. Bestimmt war ich bei der Geburt vertauscht worden, und meine richtige Familie, stinkreiche Industrielle, hatte in all den Jahren nicht aufgehört, nach mir zu suchen.
»Ich arbeite auch für einen Multi«, sage ich.
»Ah ja?« Interessiert legt Linda den Kopf schief.
»Darf ich wissen …«
Ich erinnere mich an Raouls Einkaufsliste, an Toilettenpapier, Spülmaschinentabs, Löskaffee und antworte spontan: »Nestlé. Marketing. Also: Marketingberatung. International.«
»International, klar.« Sie weicht ein wenig zurück. Damit sienicht weiter in mich dringen kann, muss ich dem Gespräch eine dramatische Wendung
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