Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und das Geheimnis der Königin

Süden und das Geheimnis der Königin

Titel: Süden und das Geheimnis der Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
das bedeutete: Wir würden sie in absehbarer Zeit für tot erklären. Für uns galt Soraya Roos nicht als vermisst, sondern als verschollen. Die Unterschiede sind graduell, aber bedeutsam, und ich war froh, dass an diesem Feiertag, dem ersten Mai, außer mir auch Sonja Feyerabend Bereitschaftsdienst hatte und ich mit ihr den Fall besprechen konnte. Sie war eine Außenstehende, was diesen Fall betraf, da sie damals noch nicht auf der Vermisstenstelle arbeitete. Wie ich verbrachte sie einige Jahre beim Mord, bis sie eine gewisse Sehnsucht nach dem Schicksal von Lebenden verspürte. Und dann bekamen wir es mit Menschen zu tun, die, zumindest in ihren eigenen Augen, ein verkehrtes Leben führten und alles daran setzten, ihre alte Realität gegen eine neue einzutauschen. Nur selten hatte jemand damit Erfolg, die meisten kehrten in ihre Zimmer zurück, aus denen sie so hartnäckig ausbrechen wollten. Manche Verschwundenen kehrten nicht zurück. Weil sie ermordet worden waren oder Selbstmord begangen hatten. Und einige, sehr wenige, blieben für immer unauffindbar. Entweder fanden wir ihre Leichen nicht oder ihr Versteck war perfekt und es war ihnen tatsächlich gelungen, sich eine neue Realität überzustreifen wie eine Tarnkappe.
    »Ist schon angenehmer«, sagte Sonja Feyerabend, als sie zu uns ins Kommissariat 114 wechselte, »nicht jeden Morgen die Fotos schrecklicher Leichen anschauen zu müssen.« Ich dagegen fand, dass menschenleere Zimmer ein nicht minder schrecklicher Anblick sein konnten.
    »Sie nehmen das zu persönlich«, sagte sie ein paar Mal zu mir. Und ich: »Ich bin ein persönlicher Polizist.« Dann lächelten wir uns an und später, als wir eine gewisse Nähe teilten, sagte sie gelegentlich: »Langsam versteh ich dich, ich wusste ja nicht, dass dein eigener Vater verschwunden ist.«
    Das stimmte. Aber er war seit achtundzwanzig Jahren verschwunden, und ich vermisste ihn nicht. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Und wenn man es genau nahm, wurde mein Vater nicht vermisst, er war verschollen. Nach den Regeln unserer Dienstvorschrift galt jeder als vermisst, der verschollen war, aber nicht jeder, der vermisst wurde, als verschollen.
    »So richtig hab ich das nie verstanden«, sagte Sonja Feyerabend. Sie hatte ihren Flugtee zubereitet und mir eine Tasse davon abgegeben. Ich trank den Tee mit Milch, was sie verabscheute.
    »Ich muss jedes Mal die PDV rausholen und nachschlagen. Wieso haben wir Soraya Roos als verschollen registriert und nicht als eine ganz normale Vermisste?«
    »Ihr Aufenthalt ist unbekannt«, sagte ich.
    »Und zwar über einen extrem langen Zeitraum.«
    »Na und?«, sagte Sonja. Es ärgerte sie, dass sie den Unterschied nicht begriff, und noch mehr ärgerte sie, dass ich ihn ihr nicht in drei einfachen Sätzen erklären konnte.
    Und am meisten ärgerte sie, dass sie an einem Feiertag Dienst hatte. Auch wenn sie wie die meisten Kollegen keine Familie hatte und allein lebte, legte sie nicht den geringsten Wert auf Überstunden und Sonderdienste. Sie war einer der wenigen Menschen, die ich kannte, vielleicht der Einzige, der etwas mit sich anzufangen wusste, wenn er allein war und sein Alleinsein nicht nur notgedrungen und mehr oder weniger ratlos verwaltete.
    »Wir haben keine Nachricht von ihr«, sagte ich.
    »Wir wissen nicht, ob sie tot ist oder noch lebt.«
    »Aber wenn ich die Berichte hier richtig verstehe, sind Sie davon ausgegangen, dass ihr was zugestoßen ist.«
    »Am Anfang«, sagte ich.
    »Und ich glaube auch nicht, dass sie noch lebt.«
    »Warum nicht?«
    »Sie hätte sich gemeldet.«
    »Warum?«
    »Sie hatte ein enges Verhältnis zu ihren Eltern.«
    »Ha!«, stieß Sonja hervor und trank und sah mich über den Tassenrand hinweg an.
    »Sie meinen, die Eltern haben mich angelogen?«, sagte ich.
    »Lügen sie nicht alle?«
    »Die Eltern haben nicht gelogen«, sagte ich.
    »Die Mutter ist gestorben und…«
    »Das steht hier«, sagte Sonja und raschelte ungeduldig mit den Papieren.
    »Bei einem Vermissten spielt es keine Rolle, ob wir annehmen, dass er noch lebt«, sagte ich. Sonja stellte die Tasse ab und dachte nach.
    »Wenn wir befürchten, es könnte ihm etwas zugestoßen sein oder zustoßen, ist er für uns ein Vermisster.«
    »Und wenn wir annehmen, er ist tot, gilt er als verschollen«, sagte Sonja.
    »Im weitesten Sinn.«
    »Bitte?«
    »Spätestens wenn eine offizielle Todeserklärung vorliegt und wir die Leiche bis dahin nicht gefunden haben, gilt er als verschollen«,

Weitere Kostenlose Bücher