Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Stüberl und danach zu seiner Frau. Und dann verschwand er endgültig. Und sie wusste es. Sie wussten es beide. Er war noch einmal zurückgekommen, um sich auszusprechen. Das war der einzige Grund gewesen. Er wollte den Druck loswerden. Und einen Tag später spazierte er ein zweites Mal in seine Bank. Mit einem schwarzen Rucksack. Mit dem er nicht zurecht kam. Er hatte ihn sich ausgeliehen. Und er war sich so sicher, dass er seiner Frau nicht begegnen würde. Er kannte alle ihre Wege, auch wenn er sie nie begleitet hatte, weil er immer nur auf seinem Schemel saß. Sie hatte ihm tausendmal erzählt, wo sie einkaufte und welche Wege sie nahm. Lieselotte und Maximilian Grauke waren dreiunddreißig Jahre lang miteinander verheiratet, bei der Hochzeit war sie zwanzig und er sechsundzwanzig gewesen. Sie kannten sich beide auswendig.
Vielleicht leistete er sich ein Taxi, nachdem er in der Bank war.
Nein. Er wurde abgeholt. Jemand wartete auf ihn. Der Besitzer des Rucksacks. Eine Frau. Die Frau, die mit ihm in der Werkstatt Bier getrunken hatte. Vielleicht. Ich musste die Schwester zum Sprechen bringen.
6
S ie sehen doch, dass ich keine Zeit hab. Sie gehen mir im Weg um!«
Paula Trautwein dekorierte einen Regalschrank. In dem Geschäft in der Kreuzstraße, wo sie arbeitete, gab es außer Gläsern in hundert Varianten Seidenblumen, Vasen, Tischsets, Schalen, Kerzen, Dosen und andere Alltagsdinge. Sie polierte Sektflöten, Cocktailschalen und Longdrinkgläser, wischte Staub aus den Regalen und ordnete die Gläser.
Ich stand ihr wirklich im Weg. Auch Ute beschwerte sich immer darüber.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihren Schwager!«
»Der hat das ganze Geld abgehoben, das Schwein!«, sagte sie.
Ich sagte: »Warum haben Sie mich angelogen?«
Was sollte sie darauf antworten? Und sie sagte das, was alle sagten: »Es ging nicht anders.«
»Natürlich«, sagte ich.
Ich schaute sie an. Sie trug einen weißen Kittel, hatte ihre Haare am Hinterkopf zusammengebunden und sich stark geschminkt. Ihre Wangen waren zu rosa, ihre Lider zu dunkel.
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Was?«
Die Frage verwirrte sie. Sie hörte vorübergehend mit der Putzerei auf. »Keine Ahnung«, sagte sie dann. »Ich mein, unseren Vater, der hat uns gezeugt und das wars dann. Wahrscheinlich haben wir irgendwo eine Horde Geschwister.«
»Und Ihre Mutter?«
»Meine ist tot.«
»Sie haben verschiedene Mütter?«, sagte ich. Auch davon hatten die beiden uns bisher nichts erzählt.
»Gehen Sie mal da weg!«
Ich ging da weg. Sie hob einen Karton vom Boden auf und stellte ihn ins Regal.
»Lotte hat wenig Kontakt zu ihrer Mutter, die lebt immer noch in Schwabing. Allein. Wir sind Familienkrüppel.«
»Sie und Ihre Schwester sind doch enge Freunde«, sagte ich. »Und Maximilian ist nicht abgehauen wie Ihr Vater. Bis jetzt.«
»Maximilian!«, sagte Frau Trautwein und machte ein verbissenes Gesicht.
Die beiden Frauen unterschieden sich elementar in ihrer Reaktion auf Graukes Verschwinden. Lotte Grauke war fassungslos, dennoch erschien sie mir eher besorgt als beunruhigt, sie nahm sich zusammen, sie klammerte sich an den Gedanken, dass bald alles so wie früher sein würde.
Paula Trautwein dagegen war wütend. Als habe Grauke sie mit seinem Weggehen persönlich beleidigt. Sie machte ihn nieder und mich hielt sie für einen Versager, weil ich ihren Schwager noch nicht gefunden hatte. Und zurückhaben wollte sie ihn wohl nur deshalb, um ihm von Angesicht zu Angesicht die Meinung zu sagen. Aber warum?
»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte sie und putzte weiter. »Rasieren Sie sich eigentlich auch mal?«
»Ja«, sagte ich.
Eine Kundin fragte sie nach Weißbiergläsern, und Paula schickte sie in den ersten Stock. Mir fiel ein, dass ich Alex anrufen wollte.
Als ich ins Dezernat kam, klebte ein gelber Zettel an meinem Computer: »Bitte Alex zurückrufen!«
»Mach das nie wieder!«, sagte ich zu ihm. Ausführlich hatte er mir erklärt, wie gut er es mit mir gemeint habe.
»Du warst total am Ende, Mann!«, sagte er zum fünften Mal.
Ich sagte: »Sei froh, dass du den Schlüsseldienst nicht bezahlen musst.«
»Ja, ja. Hör mal, ich wollt dir noch was andres sagen: Der Franticek ist da.«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Das ist ein Freund vom Max, die haben früher Schafkopf gespielt, als der Max noch unter Leute gegangen ist. Der Franticek kennt den schon ewig, ich hab ihm gesagt, dass der Max verschwunden ist, und der Franticek sagt, das ist kein
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