Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Ende gehen konnte. Diese Art Steg in ungefähr zehn Metern Höhe bestand aus Holzbohlen mit Zwischenräumen. Unten floss die Isar. Ich nahm Hindu wie ein Kleinkind an der Hand und führte ihn auf den Steg. Schon nach wenigen Metern geriet er außer sich, eine Mischung aus Höhenangst und Agoraphobie. Er versuchte sich loszureißen, er fing an zu zittern, er weinte. Und ich ging einfach weiter. Mit einer Hand klammerte er sich ans Geländer. Zwecklos. Ich zerrte ihn hinter mir her. Dann ließ er sich auf den Boden fallen. Ich kniete mich neben ihn. Er schien kurz davor zu hyperventilieren.
Wo ist Bettsy?, fragte ich ihn. Er nannte mir den Namen eines Freundes, eine Adresse, Bettsys Lieblingskneipe, er händigte mir seine Ration Hasch aus, er klammerte sich an mich. Später, im Auto, bedankte ich mich bei ihm. Natürlich erzählte er seinem Vater davon, der informierte seinen Freund, den Staatssekretär, und der rief Funkel an und behauptete, sogar der Minister sei bereits in Kenntnis gesetzt worden.
Was ich Hindu nicht gesagt hatte, war, dass ich genauso viel Angst gehabt hatte wie er. Niemals wäre ich freiwillig über diese Brücke gegangen, schon gar nicht auf diesen aberwitzigen Steg. Auf einem Spaziergang waren Ute und ich einmal an dieser Brücke vorbeigekommen. Wir wollten auf die andere Seite des Flusses. Es blieb mir nichts anderes übrig als loszurennen. Mir war schwindlig, ich bildete mir ein, magnetisch an den Rand gezogen zu werden, den Boden unter den Füßen zu verlieren, vom Wind davongetragen zu werden wie der fliegende Robert, sogar ohne Schirm.
»Willst du einen Ausflug machen?«, fragte ich Hindu jetzt.
Er sagte: »Willst du arbeitslos werden?«
Ich schwieg. Blieb neben ihm stehen. Minutenlang. Er machte sich auf den Weg zum Brunnen. Einige Jugendliche hatten ihre Hemden ausgezogen und kühlten sich mit Wasser ab. Ich schlich hinter Hindu her wie ein unrasierter Schatten. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde mich abzuschütteln.
Schließlich nannte er den Namen eines Mannes, bei dem Bettsy sein könnte. Bei dem war sie noch nie gewesen. Es war ein Kerl, zu dem man nur ging, wenn man dringend Drogen brauchte, harte Drogen.
»Du kommst mit!«, sagte ich.
»Nein.«
Kurz darauf saßen wir auf dem Rücksitz eines Taxis.
Im Schatten der Pappeln entlang der Leopoldstraße standen die Junkies dicht beieinander. Sie redeten. Sie waren auf dem Sprung. Sie sahen mich kommen und niemand hielt mich für einen Polizisten.
Hindu war im Auto geblieben. Ich hatte den Fahrer gebeten, auf ihn aufzupassen.
»Ich such Silvio«, sagte ich zu einem der jungen Männer. Er starrte mich an, er schwitzte. Eine Frau in einer abgeschabten schwarzen Lederjacke kam näher.
»Was willstn von dem?«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum zu verstehen.
»Ich will ihn was fragen, ist privat.«
Der junge Mann drehte sich um. Ein anderer gab ihm eine brennende Zigarette. Die Frau kratzte sich den Daumen wund.
»Der ist bei seiner neuen Freundin«, sagte sie. Ich sagte: »Wo?«
Sie sagte: »Am Siegestor in der Pension. Hast du was zu rauchen?«
»Nein.«
»Gib mir fünf Mark!«
Ich gab ihr zwei Mark und ging zum Taxi zurück. Hindu schlug mir gegen den Arm. »Ich will jetzt gehen, das ist Freiheitsberaubung!«, brüllte er.
»Schrei hier nicht rum!«, sagte der Taxifahrer.
»Losfahren!«, sagte ich.
Ich wollte nicht in diesem Taxi sitzen, in dem es nach Zigaretten roch, weil Hindu rauchte, und nach Schweiß, den der Fahrer ausdünstete. Ich fand es sinnlos, dieses Mädchen einzufangen. Natürlich litt der Vater, die Mutter betrank sich, sie zweifelten an sich und ihren Fähigkeiten und verzweifelten. Natürlich war es meine Pflicht zu handeln. Jedes Jahr hauten fünfzigtausend Kinder von zu Hause ab, einige von ihnen landeten auf dem Straßenstrich und in der Drogenszene, einige fielen Verbrechen zum Opfer, einige verschwanden für immer. Die anderen trieben sich herum, wurden von Streetworkern begleitet, vom Kindernotdienst versorgt, holten sich regelmäßig ihre Päckchen mit Lebensmitteln in der Bahnhofsmission ab, schafften sich Hunde an, überlebten irgendwie.
Dabei ging es nicht um jene Kinder, die von Sexualstraftätern verschleppt, misshandelt und getötet wurden, es ging nicht um die grauenhafte Leere, die ein Mädchen oder ein Junge hinterließen, wenn sie nicht von der Schule zurückkehrten. Es ging nicht um den Schmerz der Eltern, die ahnten, dass nichts mehr so sein würde wie vorher. Was ich mit
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