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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Warum? Sinnlose Frage. Vom Beginn meiner Arbeit in der Vermisstenstelle an hatte ich mich gezwungen, nicht nach dem Warum zu fragen. Jedenfalls diese Frage nicht zum Motor der Suche werden zu lassen. Vielleicht ergab sich das Warum am Ende. Oft jedoch fanden wir einen Vermissten, und die Frage nach dem Warum blieb trotzdem ungeklärt. Genau genommen ging uns die Antwort auch nichts an. Unsere Aufgabe war es, Körper zu suchen, nicht Seelen.
    Manchmal erfuhr ich etwas. Weil ich nicht aufhörte zuzuhören. Nichts davon stand je in einer Akte. Vor dem Eingang der »Pension Sonne« blieb ich einen Moment stehen. Ich hatte die Lederjacke ausgezogen, das weiße Hemd klebte mir am Körper. Ich schwitzte. Das war eine meiner angenehmsten Empfindungen. Je mehr ich schwitzte, desto anwesender fühlte ich mich. Und aus einem Grund, den noch niemand erforscht hatte, roch ich nicht nach Schweiß. Anscheinend hatte ich eine menschenfreundliche Haut.
    »Kommen Sie!«, sagte die blonde Frau mit der roten Brille. »Schnell!«
    Sie lief mir voraus in den ersten Stock hinauf. Das Zimmer, das sie mir zeigte, war winzig und hell. Durch das offene Fenster drang laut der Straßenlärm.
    »Hier«, sagte Veronika Mrozek, »das ist es!« Sie zog die zusammengeknüllte Zeitung aus der Schürzentasche. Das Foto von Grauke hatte sie mit einem blauen Stift eingekreist. »Er war da. Er hat sich Schuster genannt, Jan Schuster. Und jetzt les ich, dass er von Beruf Schuster ist. So ein Witzbold!«
    »Und er wohnt in der Jahnstraße«, sagte ich. Als einen Witzbold hatte Maximilian Grauke bisher niemand bezeichnet.
    »Drei Tage war er da«, sagte sie, »Montag, Dienstag, Mittwoch.«
    »Wann genau ist er gekommen?«
    Sie sagte: »Am Sonntag, Sonntagnachmittag. Er hat einen Koffer dabeigehabt, keinen großen. Er war sehr nett, er hat gesagt, er war auf einer Beerdigung und möchte noch ein paar Tage hierbleiben. Er hat früher mal hier in der Gegend gewohnt, hat er gesagt.«
    »Was für eine Beerdigung?« Ich setzte mich aufs Bett. Der Fernseher sah neu aus. An der Wand gegenüber hing das Gemälde einer Berglandschaft.
    »Hat er nicht gesagt«, sagte Frau Mrozek. Sie betrachtete wieder das Foto. »Auf dem Bild hier ist er jünger, in Wirklichkeit wirkt der Mann viel älter als er wahrscheinlich ist. Er geht ziemlich gebeugt, hat er was mit dem Rücken? Er hat nicht gesagt, was für eine Beerdigung er meinte, klang aber nach Familie. Er trug seinen Namen und die Adresse…«
    »Welche Adresse?«
    »Hab ich unten.«
    Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Im Park spielten vier Jungen Fußball, droschen den Ball übers Feld und rempelten sich ständig an, bis einer hinfiel. Auf beiden Seiten einer Baustelle, nicht weit von der Pension entfernt, stauten sich die Autos, ein einziges Hupen und Schreien. An der Rezeption zeigte mir die Wirtin das Formular. Jan Schuster, Tinaweg 7, 72831 Eichenlohe.
    »Haben Sie ihn gefragt, wo das liegt?« Sie sagte: »Bei Stuttgart.«
    »Ich muss mal telefonieren.«
    Ich bat Andy, die Adresse zu überprüfen und mich zurückzurufen.
    »Was hat Herr Grauke getan?«, sagte ich. Das Formular steckte ich in meine Jackentasche.
    »Nicht viel, am Sonntag… ich glaube, er hat ferngesehen, ja, am Sonntag ist er, glaub ich, überhaupt nicht rausgegangen. Am Montag ist er früh weg, ohne Frühstück, und mein Frühstück ist nicht aus Plastik, ich leg frische Sachen hin, Käse, Wurst, Vollkornbrot, Marmelade offen. Wenn ich preiswert Orangen krieg, press ich sogar einen Saft für alle. Der Herr… Grauke ist gleich aus dem Haus, ich hab ihn dann nicht mehr gesehen. Er ist wohl zurückgekommen, als die Evi da war, die Evi kommt am Nachmittag, alle zwei Tage, wenn viel los ist, auch jeden Tag…«
    »Und am Dienstag und Mittwoch?«
    »Am Dienstag ist er erst mittags aufgetaucht, er hat das Schild rausgehängt, dass er nicht gestört werden will, und dann hat er gesagt, wir brauchen nicht sauber zu machen, das wär nicht nötig. Er war sehr nett, die ganze Zeit, er hat auch nicht viel geredet, nur das Nötigste, was ich Ihnen jetzt sag, mehr nicht. Ich hab mich nicht getraut ihn auszufragen, ich hab mir gedacht, wenn er über die Beerdigung reden will, wird er das schon machen, von sich aus. Hat er aber nicht. Und wenn sein Name falsch war, dann war wohl auch die Beerdigung falsch. Oder?«
    »Vermutlich«, sagte ich.
    »Möchten Sie einen Kaffee?«
    »Ja«, sagte ich.
    Im Frühstücksraum roch es nach Blüten. Die Fenster, die weit

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