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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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dafür den Kühlschrank geöffnet. So kam ich gleichzeitig zu einer Abkühlung und einer Beleuchtung. Nackt hatte ich mich auf den Boden im Flur gesetzt. Nun wartete ich darauf, dass Ute etwas sagte.
    Sie sagte: »Das geht so nicht.«
    Wir wussten beide, dass es so nicht ging.
    »Warum hast du nicht angerufen?«, fragte sie wieder.
    »Ich habs vergessen.«
    Darauf trank sie einen Schluck, wie ich hören konnte.
    »Erklär mir das«, sagte sie dann. »Gibt es so viele Leute, die du anrufen musst? Die dir wichtig sind? Bringst du die alle durcheinander, oder was? Ich warte drauf, dass du mich anrufst, ich warte drauf! Das stinkt mir, ich bin kein Teenager, den man warten lassen kann, ich bin siebenundvierzig…«
    »Ja«, sagte ich.
    »Was ist los? Du musst mir sagen, was mit dir los ist!« Sie trank. Sie schluckte noch, während ich etwas sagte.
    »Ich hab ein paar Mal dran gedacht«, sagte ich. »Und dann konnte ich mich nur auf eine Sache konzentrieren…«
    »Was meinst du mit Sache?«, sagte sie. Sie hatte noch nicht zu Ende getrunken und verschluckte sich und hustete. Dann schrie sie: »Deine Sachen interessieren mich einen Scheiß! Du respektierst mich nicht! Und außerdem bist du ein Feigling! Du läufst vor uns weg! Seit zwei Jahren! Im Grunde seit wir uns kennen! Du bist doch sowieso am liebsten allein, was willst du von mir? Was willst du?«
    Ich hatte den Hörer neben mich gelegt, den Kopf an die Wand gelehnt, erschöpft, ratlos bis in die Fingerspitzen. Sie schrie meinen Namen, und ich tat nichts. Mit der flachen Hand bedeckte ich meinen Penis, als hätte die Wand Augen. Ich sah meinen Bauch, der vom kalten Licht halb beschienen wurde, den Bauch, dem Ute verboten hatte zu schrumpfen.
    Dann hörte ich draußen eine Männerstimme. Jemand verscheuchte die Kiffer. Sie lachten und machten Bemerkungen. Und der Teppich schrie.
    Ich nahm den Hörer in die Hand. »Heute nicht mehr«, sagte ich.
    »Ich möchte, dass wir uns morgen Abend sehen, verstanden?«, schrie Ute.
    Ich sagte: »Ja.« Wir legten auf.
    Ich würde morgen Abend nicht da sein. Ich würde mich drücken.
    Wie Maximilian Grauke.
    Wie all die anderen seinesgleichen.

10
    S eit der Auslieferung der Zeitung hatten mindestens vierzig Personen den Schuster gesehen. Auf der Straße, in der U-Bahn, in einem Kaufhaus, im Englischen Garten mit einer jungen Frau, in fünf verschiedenen Supermärkten zur gleichen Zeit.
    Noch zu Hause hatte mich Andy Krust angerufen, einer unserer jungen Kommissare, um mir mitzuteilen, die Wirtin einer kleinen Pension in Neuperlach behauptet, Grauke habe Anfang vergangener Woche bei ihr gewohnt. Zwar habe er einen anderen Namen benutzt, aber sie sei sich ganz sicher, dass er es war. Also sagte ich Andy, ich würde später ins Dezernat kommen und gleich nach Neuperlach fahren. Was zeitaufwändig war. Vor allem, wenn man nicht die U-Bahn benutzte. Ich benutzte sie höchstens nachts, und dann auch nur, wenn ich etwas getrunken hatte. Immer wieder hatte ich versucht, tagsüber damit zu fahren. Ich stieg am Giesinger Bahnhof ein, stellte mich nah an die Tür und beachtete niemanden. Eine Station später stürzte ich wieder hinaus. Ich ertrug die geschlossenen Türen nicht. Die Leute in meiner unmittelbaren Nähe. Die Geschwindigkeit des Zuges. Mir kam es vor, als würde die Bahn nicht waagrecht in den Tunnel einfahren, sondern sich senkrecht immer tiefer in die Erde bohren. Kaum war ich zurück im Tageslicht, hörte mein Herz auf, wie gestört zu schlagen, das Flattern in meinen Beinen verschwand und der Schweiß tropfte mir nicht mehr aus den Achselhöhlen wie Wasser von einer Dachrinne.
    Nur die Vorstellung, in einem Flugzeug zu sitzen, war noch furchtbarer.
    Dabei war ich schon geflogen. Als Kind. Mit meinen Eltern. Als mein Vater meine Mutter zu einem amerikanischen Schamanen gebracht hatte, damit dieser sie heile. Und nie bekam ich heraus, wie er auf diese Idee verfallen war. Doch meiner Mutter ging es nach dem Besuch tatsächlich besser, einige Zeit wenigstens. Der Bus verließ die Stadt in östlicher Richtung. An der Haltestelle Neuperlach-Zentrum stieg ich aus und machte mich auf den Weg zum Ostpark. In der Staudinger Straße befand sich die »Pension Sonne«. Ich brauchte eine halbe Stunde.
    Was hatte Grauke in dieser Trabantenstadt zu suchen? Nichts als Hochhäuser, Ausfallstraßen, Einkaufszentren, Beton und Anonymität. Das extreme Gegenteil des Viertels, in dem er seit Jahrzehnten lebte. Suchte er das extreme Gegenteil?

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