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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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einen Schock, er fängt sich wieder. Wir haben Whisky getrunken, ich hab ihn reden lassen, aber je mehr er getrunken hat, desto unklarer wurde alles. Seine Frau, seine Schwägerin… Jetzt fällt mir ein… Hat die mal in Neuperlach gewohnt? Früher? Kann das sein?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Anscheinend wissen Sie nicht sehr viel über ihn«, sagte Roberta. Sie nahm einen letzten tiefen Zug aus der Zigarette, drückte sie auf dem Fensterbrett aus und ließ die Kippe liegen.
    »Jeder erzählt was anderes«, sagte ich.
    Sie sagte: »Als er wegging, war er guter Dinge. Er hat sogar mal angerufen und gesagt, dass alles wieder in Ordnung ist. Ich hab nicht weiter nachgefragt, ich hab ihm gratuliert und viel Glück gewünscht. Hoffentlich tut er sich nichts an! Haben Sie im Park schon nach ihm gesucht?«
    »Nein«, sagte ich.
    Diesmal war ich erschrocken. Sofort rief ich von der Rezeption aus im Dezernat an und bestellte mehrere Streifenwagen zum Ostpark.
    Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, ging ich in den ersten Stock hinauf, in das Zimmer, in dem Grauke drei Nächte verbracht hatte. Ich stellte mich ans offene Fenster.
    Vielleicht hatten wir einen Fehler gemacht. Den einen Fehler, den wir nicht machen durften. Den einen Fehler, den uns niemand verzieh. Den nie wieder gutzumachenden Flüchtigkeitsfehler, der darin bestand, eine Biografie nicht intensiv genug gelesen zu haben. Der Nase vertraut zu haben anstatt der Erfahrung.
    Und die Erfahrung lehrt, dass das Schlimmste jederzeit eintreten kann. Dass wir keinen einzigen Grund haben, von einer Wendung zum Guten, Schönen, Harmonischen, Verständlichen auszugehen. Manchmal gibt es das Glück. Aber das Glück ist keine kosmische Konstante.
    Ich musste aufhören zu spinnen. Mir Sachen einzureden. Feststand: Grauke wurde von einer Frau abgeholt. Wer sagte, dass das feststand?
    Glaubte ich, bei der Frau handelte es sich um seine Cousine?
    Nein. Ich glaubte es nicht. Warum nicht? Wir wussten nichts von einer Cousine.
    Vielleicht wurde er von seiner Schwägerin abgeholt. Weshalb auch immer. Hatten sie ein Verhältnis? Nein. Vor sechs Jahren wollte er sich umbringen. Und nicht wegen seiner Schwägerin. Auch das stand fest.
    Wer sagte, dass auch das feststand?
    Roberta Lohss. Ihre Schilderungen waren eindeutig. Es ging um etwas anderes als um eine Beziehung zwischen Grauke und Paula Trautwein. Um was?
    Um was?
    Kaum war ich eingestiegen, fuhr das Taxi los, und ich begriff, dass ich einen jener Fahrer erwischt hatte, die enorm stolz darauf waren, Deutsche zu sein. Er hörte sich an wie der Chefkolumnist der »Nationalzeitung«. Ich war in einem rollenden Reichsparteitag gelandet. Nach einem Kilometer stieg ich aus.
    Bis ich endlich im Dezernat war, dauerte es noch vierzig Minuten.
    »Die Sitzung fängt gleich an«, sagte Martin. »Thon erwartet dich voller Sehnsucht.«
    »Haben die Kollegen aus Neuperlach schon angerufen?«
    »Ja«, sagte Martin. »Bis jetzt nichts. Im Park hat niemand was beobachtet.«
    Das Telefon klingelte. Martin ging an den Apparat, während ich mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank holte. Dann fiel mir auf, dass Martin nichts sagte. Ich drehte mich um. Er sah mich an, winkte mich ungeduldig zu sich.
    »Einen Moment bitte«, sagte er ins Telefon, »einen Moment…«
    Er reichte mir den Hörer.
    »Süden.«
    Eine Stimme sagte: »Hier ist Maximilian Grauke. Hören Sie bitte auf, mich zu suchen!«

11
    W o sind Sie, Herr Grauke?«
    »Sie dürfen mich nicht suchen, wenn ich das nicht erlaube«, sagte Grauke. Im Hintergrund hörte ich das Rauschen von Autos. Als stehe er an einer Autobahn oder einer viel befahrenen Ringstraße.
    »Wo sind Sie, Herr Grauke?«
    Pause. Ich versuchte herauszuhören, ob jemand bei ihm war. Das Schaben von Schuhen, das Brummen blieb unverändert, er hielt die Sprechmuschel nicht zu. Er dachte nach. Auf die einfachste Frage hatte er sich keine Antwort überlegt.
    »Mir gehts gut, das wollt ich Ihnen nur sagen, Sie haben keinen Grund, mich öffentlich bloßzustellen.«
    »Wer hat Sie bloßgestellt?«, sagte ich. Inzwischen standen drei Kollegen um mich herum und hörten mit. Neben Martin noch Andy Krust und Volker Thon, der sich ständig mit dem Zeigefinger am Hals kratzte. Sein Halstuch war heute silbergrau.
    »Sie! Sie!«, sagte Grauke erbost. »Sie haben geschrieben, ich würd mich umbringen! Das ist eine Unverschämtheit! Das ist eine Diffamierung!«
    »Vor sechs Jahren wollten Sie sich umbringen, Herr Grauke«,

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