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Süden und das grüne Haar des Todes

Süden und das grüne Haar des Todes

Titel: Süden und das grüne Haar des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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lieferte uns jedoch konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort der alten Frau .
    Stattdessen diskutierten wir in der nächsten Dienstbesprechung eine eigentümliche Koinzidenz, die bei meinen Kollegen und mir zunehmend Unbehagen auslöste.
     
    Obwohl wir mehrere Vermissungen gleichzeitig zu bearbeiten hatten – allein der Fall der rumänischen Kinder und des Ehepaars beschäftigte fünf unserer dreizehn Kriminalisten, zudem waren zwei Kollegen am Morgen in die Türkei geflogen, um die Aussagen des Zeugen im Zusammenhang mit der seit einem Jahr abgängigen Achtjährigen zu überprüfen –, konzentrierten wir uns zunächst ausschließlich auf die Akte Halmar. Und auf die Daten eines Rentners, die aus dem INPOL-System bereits gelöscht waren, nachdem das Bundeskriminalamt bei der Abgleichung mit seiner VERMI/UTOT-Datei keine Übereinstimmungen festgestellt hatte. Wie immer, wenn jemand eine Person als vermisst melden wollte, hatten wir im Fall des Rentners vorab klären müssen, ob überhaupt – wie es in der PDV, unserer Dienstvorschrift, hieß – eine Gefahr für Leben oder körperliche Unversehrtheit bestand oder ein Selbstmord, ein Unglücksfall oder eine Straftat zu befürchten waren. Falls nicht, blieb uns und den Angehörigen nur das Warten .
    Das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit erlaubt es jedem Bürger, vom achtzehnten Lebensjahr an den Weg zu beschreiten, den er für richtig hält, ganz gleich, ob seine Verwandten und Freunde darüber verzweifeln. Natürlich darf nach den Regeln der Verfassung derjenige, der beschließt, sein gewohntes Lebensumfeld zu verlassen, dadurch nicht die Rechte anderer verletzen und »gegen die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz« verstoßen. Doch schon bei der Auslegung der »Rechte anderer« klafften unsere Einschätzung als Polizisten und die der Angehörigen oft weit auseinander.
    Waren wir verpflichtet, einen Ehemann, der sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub machte und seine Familie mehr oder weniger mittellos zurückließ, zu suchen und zurückzubringen? Mussten wir nach einem Neunzehnjährigen fahnden, der aus seinem Elternhaus verschwand, das er in einem Abschiedsbrief als unerträglich erdrückend empfunden hatte?
    Falls wir eine Gefahr für Leib und Leben ausschließen konnten, lautete die Antwort eindeutig Nein – meist unverständlich für die Betroffenen auf der anderen Seite meines Schreibtisches. Manchmal – und nicht einmal so selten – nahmen wir die Anzeige trotzdem auf, leiteten die Daten ans LKA weiter, von wo aus sie automatisch mit den Verzeichnissen von Vermissten und unbekannten Toten im BKA-Computer vernetzt wurden. Am Ende gelang es uns vielleicht, den Verschwundenen zu finden .
    Aber wenn er uns verbot, seinen Aufenthaltsort zu nennen, mussten wir uns daran halten. Und das taten wir auch, trotz der zu erwartenden Reaktionen aus Fassungslosigkeit oder Niedergeschlagenheit. Um Stimmenersatz für entleerte Zimmer zu liefern, reichten unsere Befugnisse nicht.
    Was mich betraf, so verharrte ich – entgegen der Anweisungen meines Vorgesetzten und der Bestimmungen der PDV – oft genug und weit über die Zeit hinaus auf der Schwelle, von Klagen überschwemmt oder gefesselt von der Stummheit eines Menschen, dessen bisheriges Leben aus Beton bestanden hatte und der erst durch die Abwesenheit eines anderen begriff, dass Krokusse nicht vom Himmel fielen, sondern den Glauben eines Gärtners ans Frühjahr belohnten. Ich stand da und schwieg oder sagte etwas gegen den Hagel der Selbstbezichtigungen, und wenn ich wegging, schloss sich meist die Tür hinter mir, und ich wandte mich nicht um.
    So verbrachte ich zwölf Jahre auf der Vermisstenstelle des Dezernats 11.
    Und auch als sich diese Zeit dem Ende zuneigte, nach knapp zwanzigtausend Vermissungen, setzten mich oft Fälle in Erstaunen, von denen ich gedacht hatte, sie seien ohne größere Umschweife zu klären. Noch heute, mit einigem Abstand von meiner Funktion als Hauptkommissar, begreife ich kaum, wie ich in jener Zeit, als der Fall Halmar sich ereignete, glauben konnte, es würde Tag werden, wenn es dämmerte. Dabei begann gerade erst die Nacht, und ich schaute hin und sah nichts .
    »Dass du das nicht sofort gemerkt hast, wundert mich«, sagte Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle .
    Zu fünft saßen wir in Thons Zimmer im ersten Stock, vor uns auf dem runden Tisch unter der Fensterfront Blocks und Kaffeetassen, und reichten ein DIN-A4-Blatt von

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