Süden und das grüne Haar des Todes
Hand zu Hand. Darauf hatte ich Angaben zur Person eines zweiundsiebzigjährigen Mannes vermerkt, der am vorletzten Märzwochenende von seiner Frau als vermisst gemeldet worden war. Ich hatte sofort eine Fahndung eingeleitet, da ich nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben vermutete – der Mann litt an einem schon einmal operierten Magentumor und einem schweren Herzklappenfehler, was dazu führte, dass er manchmal stürzte und minutenlang ohnmächtig liegen blieb. Der Mann irrte vermutlich ziellos umher. Und bei fast zehn Prozent aller Erwachsenen, die plötzlich verschwanden, lautete die Ursache für ihr Verhalten chronische Hilflosigkeit .
Ich sagte: »Ich kann es dir nicht erklären.«
Der Mann, um den es ging, hieß Gabriel Seberg. Und ich hatte auf die Ähnlichkeit mit dem Namen Sebald, den Emmis Knoblauch brutzelnder Mann erwähnte, nicht reagiert.
Was aber Thon als noch gravierender einstufte und uns alle in stummes Grübeln versetzte, war die Übereinstimmung des Datums seines Verschwindens mit einer Notiz im Fall Halmar. Gabriel Seberg hatte am Samstag, dem vierundzwanzigsten März, vormittags das Haus im Münchner Stadtteil Au verlassen .
»Und zur selben Zeit ist deinen Aufzeichnungen zufolge auch die Frau aus Ismaning zum letzten Mal gesehen worden«, sagte Thon .
Er hatte richtig gelesen .
»Und die beiden kannten sich«, sagte er .
»Von früher«, sagte Freya Epp, meine jüngste Kollegin, die alle paar Monate eine neue farbenfrohe Designerbrille trug, mit allerdings immer derselben Gläserstärke, sodass ihre Pupillen riesig wirkten .
»Habt ihr den Hausmeister gefragt, ob der den Seberg kennt?« Paul Weber, der Älteste in der Runde, kritzelte, wie es seine Art war, ein Wort auf seinen Block und unterstrich es, auch wenn er es bereits einmal notiert hatte .
Sein Bauch stieß gegen die Tischkante, und er hatte die Ärmel seines rotweiß karierten Hemdes hochgekrempelt, graue Haarbüschel bedeckten seine Arme. Mit seinem breiten, konturlosen Gesicht und seiner bulligen Figur, seinen karierten Hemden und den Kniebundhosen sah er aus wie der klassische Vorzeigebayer, der noch dazu weißblaue Stofftaschentücher benutzte und im Winter einen Lodenmantel trug. Dabei sprach er selten Dialekt und über seine Heimat – er war am oberbayerischen Schliersee aufgewachsen, wo seine Mutter noch immer lebte – verlor er nie ein Wort. In meiner Anfangszeit auf der Vermisstenstelle war er es gewesen, der mir geholfen hatte, mich zurechtzufinden, später versuchte ich, ihm während des langen Sterbens seiner Frau Elfriede beizustehen, mit der er siebenundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war. Neben Martin, den ich seit meinem ersten Lebensjahr kannte, war Weber zu einem engen Vertrauten und Freund geworden. Davon abgesehen, hielt ich ihn für einen der besten Kriminalisten des Dezernats. Von ihm stammte der Ausspruch: »Einen Schuss und ein gesprochenes Wort kann man nicht zurücknehmen.« Und vielleicht war das der Grund, warum er nie eine Waffe bei sich trug und besonders Menschen mochte, die wenig redeten.
»Wir haben ihn noch nicht gefragt«, sagte ich .
»Warum ist der Mann zurückgekommen, die Frau aber nicht?« Thon – mit seinen fünfunddreißig Jahren der jüngste Kommissariatsleiter Bayerns – kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen bevorzugte er teure Kleidung, und er schreckte nicht davor zurück, ein Seidenhalstuch und Seidensocken zu tragen, dazu oft ein blaues Leinensakko, und sich mit einem Parfüm einzusprühen, dessen Namen ich immer vergaß und das nach Sonjas Meinung edel roch. Ich fand, es roch unedel. Manche Kollegen hielten ihn für einen karrieristischen Schnösel, dem das eigene Ansehen über alles ging. Meiner Einschätzung nach leistete er als Verantwortlicher im K 114, der Vermisstenstelle, und Organisator bei komplexen Fällen sehr gute Arbeit. Unsinnigerweise versuchte er ständig, mich zu ändern. Für ihn gehörte ein Mann, dessen Haare phasenweise bis auf die Schultern fielen und der bevorzugt an den Seiten geschnürte Lederhosen und weiße Baumwollhemden trug und eine Halskette mit einem blauen Adleramulett, eher in die Wildnis als in ein polizeiliches Büro, dessen Effektivität auf Kommunikation und Teamgeist beruhe. »Einzelgänger«, pflegte er zu sagen, »bringen nichts, das ist wie beim Fußball.« Im gesamten Dezernat 11 war er inzwischen der einzige Kriminalist, der eine Ehefrau und zwei Kinder hatte, und er
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