Süden und das grüne Haar des Todes
hätte man die Narbe erkennen können. Wenn man wollte.
Um Emmi abzulenken, sagte ich: »Wann ist Ihre Schwester verschwunden?«
Seit ich mich in diesem Zimmer befand, hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt. Und mich irritierte etwas, von dem ich gespannt war, ob Sonja es ebenfalls bemerkte.
»Ende vierundvierzig«, sagte die Frau in dem blauen knitterigen Kleid, holte tief Luft und legte die Zeitung neben sich auf den Sekretär. Dann strich sie mit einer Hand über die ausgestreckten Finger der anderen und schaukelte mit den Hüften. »Als der Alarm losging, war sie draußen, um Brot und Käse zu holen. Bei den Hufschmieds. Die hatten immer Reserven, das waren gute Bekannte von uns. Die wohnten drüben in der Altstadt, die war ja fast völlig ausgebrannt nach dem großen Bombenangriff im April mit den vierhundert Fliegern . Ruth fuhr mit dem Fahrrad, meine Mutter schickte immer nur sie los, weil sie die Ältere war. Und sie war mutig . Viel mutiger als ich. Ich hab mich schnell erschrocken . Heut noch. Zum Beispiel, wenn der Wind weht, und ein Fenster steht halb offen oder eine Tür, und es gibt Geräusche. Da zuck ich zusammen und erschreck bis kurz vor dem Herzkasperl. Wenn in den Ruinen Steine verrutscht sind, das ist ja dauernd passiert, dann bin ich weggerannt vor Schrecken. Die Ruth war da ganz anders. Die Ruth hat Mut, hat meine Mutter gesagt. Die Ruth hat Mut, und das hat gestimmt. Einmal hat sie in stockdunkler Nacht auf der Straße ein Kind schreien hören, da ist sie rausgelaufen, raus aus der Wohnung und hat es gesucht. Ganz allein. Niemand war unterwegs. War ja mitten im Krieg, Sie hat so lange in den dunkelsten Ecken nachgeschaut, bis sie das heulende Elend entdeckt hat. Es war ein Mädchen, weiß ich noch, drei Jahre alt oder vier, mit einem alten Mantel und barfuß mitten in der Nacht. Die Ruth hat Mut.«
Sie blinzelte stumm, nichts weiter .
»Wir mussten in den Keller, und am nächsten Morgen, einen Tag vor Neujahr, war sie immer noch nicht da. Wie sich rausstellte, ist der ganze Block eingestürzt, in sich zusammengefallen. Da war kein Angriff, verstehen Sie? Es gab nur Alarm, sonst nichts. Ausnahmsweise. Es hieß, Gas wär explodiert. Die Leichen der Hufschmieds hat man gefunden, aber hundert andere nicht. Das war ein großer Block. Sie waren wohl im Keller, und trotzdem . Niemand hat Ruth gesehen. Einer hat sich erinnert, dass sie da war, aber wie lang? Wie lang? Viele tausend Menschen sind seinerzeit vermisst worden, die sind nie mehr aufgetaucht, die blieben unter den Trümmern begraben .
Zur Mutter hab ich gesagt, bestimmt kommt die Ruth wieder, die hat sich nur wo versteckt, die ist stark, die taucht wieder auf, die Ruth hat Mut, das weiß doch jeder .
Sie ist nicht wiedergekommen. Wie unser Vater. Der blieb draußen im Krieg. Er war in Frankreich zuletzt.
Auch ihn haben wir nicht beerdigt. Meine Mutter liegt auf dem Waldfriedhof, da komm ich auch mal hin, und mein Mann.«
Mit einem Seufzen erhob sie sich, indem sie umständlich die Hände auf die Lehne stützte und sich nach vorn beugte.
»Würden Sie uns bitte noch eine Frage beantworten?«, sagte Sonja Feyerabend.
Ich machte einen Schritt ins Zimmer, um mich aus der Starrheit zu lösen.
»Freilich«, sagte Emmi Bregenz. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich brauch jetzt einen.«
»Nein, danke«, sagte Sonja .
»Ich würde gern einen trinken«, sagte ich .
Sonja stand auf und strich im selben Moment ihren Mantel glatt wie die alte Frau ihr Kleid. »Hätte es einen Grund für Ihre Schwester geben können, absichtlich zu verschwinden? Oder haben Sie mal daran gedacht, dass sie entführt worden sein könnte? Dass also etwas passiert ist, was nicht direkt mit dem Krieg und den aktuellen Umständen zu tun hatte?«
Vielleicht mischte sich die verspielte Spottlust einer alten, erfahrungsgesättigten Frau angesichts einer jüngeren, dienstbeflissenenen Beamtin in den schelmischen Blick von Emmi Bregenz.
»Ach was! Wenn sie entführt worden ist, dann vom Schlafgott, der sie in eine bessere Welt mitgenommen hat. Als Kind hab ich fest daran geglaubt. Und meine Mutter auch. So haben wir das damals auch den amerikanischen Polizisten erklärt, und die haben uns geglaubt.«
»Wer ist der Schlafgott?«, sagte Sonja, ohne auf den Blick der alten Dame zu reagieren.
»Kommen Sie in die Küche, bitte.« Emmi Bregenz ging vor uns her durch den Flur .
Es roch nach heißem Öl, Zwiebeln und Knoblauch .
»Der spinnt!«, sagte Emmi und riss
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