Süden und das grüne Haar des Todes
verbrachte jede freie Minute mit seiner Familie.
»Ich hab mich übrigens erkundigt«, sagte Freya Epp und kramte in ihren Papieren. »Der Gabelsberger … Gabriel, nein …«
»Konstantin«, sagte ich.
»Genau!« In Vernehmungen und bei Befragungen zeichnete sich die zweiunddreißigjährige Oberkommissarin durch Geduld und Genauigkeit aus, und ihre schriftlichen Berichte waren knapp und klar strukturiert. Musste sie jedoch frei sprechen, im schlimmsten Fall vor einer Gruppe mit mehr als fünf Personen, verhedderte sie sich auf kuriose Weise in ihren eigenen Sätzen. Manchmal genügten schon fünf Personen .
»Ich hab in INPOL … , also der Paul hat mir geholfen bei den alten Dateien, sie sind … Ich hab mir das rausgeschrieben, extra … der Gabriel, also der Konstantin Gabriel … nein …« Schuldbewusst warf sie einen Blick über den Tisch, und ihre Pupillen sahen aus, als würden sie jeden Moment über den Brillenrand klettern .
»Ist er nun vorbestraft wegen sexueller Belästigung oder nicht?«, sagte Sonja Feyerabend, und mir fiel ihre Nase auf, deren Spitze noch stärker als sonst nach oben zu zeigen schien. Vielleicht zog die Lüge bei bestimmten Leuten die Nase in die Länge und die Ungeduld bei anderen die Nase in die Höhe.
»Wir haben … , also der Paul hat eine alte Anzeige aus dem System gerieselt …«
»Du hast sie gefunden«, sagte Weber, dessen Ohren rot glänzten.
»Ist er verurteilt worden oder nicht?« Ruckartig fegte Sonjas Blick über mein Gesicht. »Was schaust du?«
Ich schaute einfach weiter. Und dann fiel mir die vorletzte Nacht wieder ein, und ich schaute auf die Akte vor mir.
»Er ist nicht vorbestraft«, sagte Freya Epp. »Es gab eine Anzeige, aber da war … Keine Beweise. Ist zehn Jahre her.«
»Hier ist die Aussage von Sebergs Frau«, sagte Thon. Er hielt drei zusammengeheftete Blätter in der Hand. »Maria Seberg hat erklärt, ihr Mann sei nach seiner Rückkehr in einem stabilen Zustand gewesen, über seinen Aufenthaltsort konnte er keine Angaben machen. Du warst mit Sonja bei ihm.« Er sah mich an.
»Ich habe nicht mit ihm gesprochen«, sagte ich. »Er lag im Bett, als wir kamen, und war gerade eingeschlafen. Wir sind an seinem Bett gestanden, seine Frau hatte ihm Tee gekocht und Brote geschmiert, er hat nichts gegessen, er wollte bloß schlafen, sagte seine Frau. Wir haben dann einen Widerruf ans LKA geschickt.«
»Danach habt ihr nicht mehr mit ihm gesprochen?«, sagte Thon .
»Nein.«
Durch die schlecht isolierten Fenster drang Straßenlärm herein, gelegentlich hörten wir die Stimmen von Gästen aus dem türkischen Lokal im Erdgeschoß .
»Du musst noch einmal mit dieser Amalie Bregenz reden.« Mit einem kurzen Blick auf Sonja griff Thon nach einem Zigarillo und drehte ihn in der Hand. Auf Wunsch von Sonja und einiger anderer Kolleginnen war während der Besprechungen das Rauchen verboten. Thon fiel es am schwersten, sich daran zu halten .
Auf den vielleicht entscheidendsten Punkt dieser Vermissung kam mein Vorgesetzter erst jetzt zu sprechen .
»Was sagt deine Intuition? Ist die verschwundene Babette Halmar die Schwester von Amalie Bregenz?«
Ich schwieg. Draußen klingelte eine Straßenbahn, und ein Hund bellte.
»Und wenn ja«, sagte Thon, »dann haben wir eine Frau, die jahrzehntelang unter einem anderen Namen in Ismaning gelebt hat. Die sich seit Kriegsende nicht bei ihrer Schwester gemeldet hat. Die sich möglicherweise vor zwei Wochen mit einem Freund aus Kindertagen getroffen hat, und zwar heimlich. Aber warum das alles, das wissen wir nicht.«
»Wo können sich zwei alte Menschen treffen, die sich seit ewigen Zeiten kennen und die nicht gestört werden wollen?«, sagte Weber. Wieder vermerkte er ein Wort auf seinem Block und malte einen Kreis darum. Was er geschrieben hatte, konnte ich aus der Entfernung nicht erkennen. Ich hatte meinen Stuhl vom Tisch weg an die Wand gerückt.
»Wohl nicht in einem Hotel«, sagte Sonja. Vielleicht dachte sie in diesem Moment an dasselbe wie ich. An jenen Nachmittag, als ich sie, einem spontanen Einfall folgend, mitten in der Dienstzeit bei der Hand genommen und in ein teures Hotel in der Nähe des Dezernats geführt hatte, wo wir anschließend zwei Stunden verbrachten .
Jetzt drehte sie sich zu mir um. Und ich stand auf, ging zu ihr an den Tisch und gab ihr einen Kopfkuss. Dann setzte ich mich wieder. Freya, Weber und Thon hatten mir wortlos zugesehen .
»Warum nicht in einem Hotel?«, sagte Thon .
»Das
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