Süden und das grüne Haar des Todes
Tochter.
»Ich weiß nicht, warum sie so was macht«, sagte sie tapfer .
»Sie hat Angst«, sagte ich.
»Nein.«
Ich schwieg.
Das Zimmer war schmal und wirkte vernachlässigt, nicht schmuddelig, eher wie ein Raum, in dem niemand Wert auf Behaglichkeit legte. Auf den in die Wand gedübelten gelben Regalen lagen Unmengen von Comicheften, aufwändig illustrierte Bände, daneben Mappen, aus denen vereinzelt Zeitungsausschnitte heraushingen, CDs und Gläser und Tassen in allen Varianten und Farben. Aus einem Bastkorb quollen Kleidungsstücke und unzählige Gürtel, einige mit Nieten beschlagen. Am Schrank neben der Tür hing ein dunkelbrauner, speckiger Ledermantel, davor standen knöchelhohe Stiefel mit Stahlkappen an den Spitzen.
Lore Vogelsang räusperte sich. Und weil ich weiter schwieg, sagte sie mit unsicherer Stimme: »Vorhin haben Sie … hab ich das richtig verstanden, es geht gar nicht um Tanja, sondern um eine Frau, die verschwunden ist …«
Um das fünfzehnjährige Mädchen ging es mir tatsächlich nicht in erster Linie.
»Vielleicht erzählen Sie mir zuerst etwas über Ihre Mutter«, sagte ich.
»Meine Mutter?« Sie schaute mich an, als hätte ich ein Verbot missachtet. Dann nahm sie die rechte Hand aus der Hosentasche, hob den Arm, als plane sie eine bedeutende Geste, und steckte die Hand nach einigen Sekunden der Ratlosigkeit wieder in die Tasche. Die Worte kamen ihr noch mühsamer als vorher über die Lippen. »Wollen wir nicht runtergehen und … uns ins Wohnzimmer setzen … Ich mach uns einen Tee … wenn Sie wollen …«
»Ich möchte lieber hier bleiben«, sagte ich .
Nach einem Moment sagte sie: »Warum?«
»Setzen Sie sich doch.«
Vor dem weiß lackierten Holztisch gegenüber dem Bett stand ein Hocker mit vier stämmigen Beinen, auf dem man garantiert hart und unbequem saß. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Tanja auf ihm viel Zeit verbrachte und Hausaufgaben machte.
»Setzen Sie sich aufs Bett«, sagte ich und stand auf. »Ich stehe lieber.«
»Danke«, sagte Lore Vogelsang .
Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken .
»Ist Ihnen nicht zu warm?«
»Nein«, sagte ich. Ich hatte immer noch die Lederjacke an.
»Wollen wir uns nicht doch unten hinsetzen?« Sie bemühte sich um ein Lächeln, das ihr mittendrin misslang .
»Jetzt stehen wir beide hier rum wie bestellt und nicht abgeholt.«
»Das macht nichts«, sagte ich. »Ist es Ihnen unangenehm, über Ihre Mutter zu sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf und sah wieder zum Fenster und dachte über etwas nach. Es fiel ihr schwer, sich auf meine Fragen zu konzentrieren.
»Nein … Warum … Was hat meine Mutter mit der Frau zu tun, die verschwunden ist?« Wieder schüttelte sie den Kopf, mehr verärgert als verwirrt .
»Haben Sie das Foto in der Zeitung gesehen?«
»Ich hab die Zeitung nur durchgeblättert«, sagte sie. »Ich hab den ganzen Vormittag Unterricht gegeben, ich hatte noch keine Zeit zum gemütlich Zeitung lesen.«
»Was unterrichten Sie?«
Demonstrativ blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Klavier«, sagte sie unwirsch. jetzt war ein guter Moment, das Schweigen fortzusetzen.
Und Lore Vogelsang reagierte sofort. »Das passt mir nicht, dass Sie hier im Zimmer sind! Das ist das Zimmer meiner Tochter, und nicht mal ich geh einfach rein, wenns mir passt. Ich glaub nicht, dass Sie so einfach durch fremde Wohnungen gehen dürfen, ohne … Erlaubnis.«
»Sie meinen, ohne Durchsuchungsbeschluss«, sagte ich .
»Ich will jetzt wissen, was genau Sie von meiner Tochter wollen, und was meine Mutter damit zu tun hat. Und ehrlich gesagt, möcht ich gern noch mal Ihren Ausweis sehen. Es kommt mir nämlich merkwürdig vor, dass Sie hier allein auftauchen, das ist doch unüblich, oder?«
Ich zog den blauen Ausweis aus der Innentasche meiner Lederjacke und hielt ihn ihr hin. »Vollkommen unüblich«, sagte ich. »Meine Kollegen sind alle unterwegs, die Kollegin, die mich begleiten wollte, musste im letzten Moment zu einem Einsatz. Aber wir schaffen unser Gespräch auch allein, Frau Vogelsang.«
Nach dem Anruf der Zigarette rauchenden Unbekannten hatte ich auf gut Glück bei Emmi Bregenz’ Tochter in der Kazmairstraße angerufen, weil ich bei der »Mega« -Bemerkung des Mädchens an eine Formulierung seiner Großmutter hatte denken müssen. Daraufhin war Sonja Feyerabend ein zweites Mal ins Lehel gefahren. Vielleicht hatte die alte Frau eine Vorstellung, woher ihre Enkelin – falls mein Verdacht zutraf – Babette
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