Süden und das heimliche Leben
noch verbergen wollen, auch vor mir, obwohl ich ihr doch gesagt hab, dass ich sie durchschaut hätt und sie mir nichts mehr vorzuspielen braucht. Sie hat trotzdem was vorgespielt, mir und allen anderen. Wir haben gestritten, das war schlimm. Noch an dem Montag, bevor sie verschwunden ist, hab ich sie zur Rede gestellt und ihr gedroht, dass ich sie auffliegen lass, wenn sie nicht verspricht, ordentlich lesen und schreiben zu lernen. So schwer ist das nicht, wenn man sich Mühe gibt. Das kann man auch als Erwachsener noch lernen, das schaffen ja auch viele.«
Erschöpft stützte sie den Kopf in die Hände und sah Süden mutlos an. »Wahrscheinlich bin ich schuld, dass alles so gekommen ist. Ich hätt sie in Ruhe lassen sollen. Wissen Sie, sie ist nicht dumm, sie kann halt nur nicht … Sie hätt das vielleicht auch so geschafft, das Geschäft und alles … Ich hätt sie nicht so anschreien dürfen. Aber ich war so wütend, so enttäuscht auch, so … Es ist so.«
Sie nahm die Hände vom Gesicht, wischte sie wieder an der Schürze ab. »Was mich angeht, ich bin froh, dass wir bald raus sind. Ich mag nicht mehr, sechs Tage jede Woche, gelegentlich mal ein paar Tage am Gardasee, das macht mich kaputt. Und die Gäste werden auch immer älter und saufen noch mehr und reden immer das Gleiche. Meistens ist es wunderbar, wenn alle da sind, und jeder hat seine Geschichte, und wir stoßen alle an und gehören irgendwie zusammen. Aber manchmal ist es bloß noch trostlos, und ich hör, was sie reden und wie sie reden, und ich schau ihnen zu, wie sie immer betrunkener werden. Dann möcht ich hingehen, ihnen das Glas wegnehmen und sagen: Jetzt ist Schluss, jetzt mach noch was aus deinem Restleben, geh mal raus, streng dich an, ein richtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, such dir einen Job, verdien wieder Geld, lieg nicht uns allen auf der Tasche. Solche Sachen.
Wenn Sie als Wirtin anfangen, so zu denken, sind Sie am Ende, das steht fest. Meine Eltern haben ein Haus in Bad Endorf, das hab ich Ihnen schon erzählt, glaub ich, da ist eine Menge Platz, da können wir in Ruhe leben, mein Mann und ich, wir haben unser Auskommen. Und wenn wir wüssten, dass die Ilka unser Lokal weiterführt, würd es uns noch bessergehen. Das ist die Wahrheit, Herr Süden. Und? Sind Sie jetzt einen Schritt weiter?«
»Unbedingt«, sagte er.
Immerhin kannte er nun den Grund, warum Ilka vermutlich untergetaucht war – aus Angst vor der Verantwortung, vor der Enttarnung, vor der Schmach, vor den Fingern, die auf sie gerichtet wären, wenn herauskäme, dass sie eine Analphabetin war. Pure Panik hatte sie veranlasst, von einem Tag auf den anderen abzutauchen und sich allen Aufgaben zu entziehen. Sie wusste, von nun an würde jeder von ihr denken, sie sei eine Lügnerin und Täuscherin, ihre Stammgäste würden hinter ihrem Rücken schlecht über sie reden und sie auslachen. Sie würden glauben, sie wäre auf der Sonderschule gewesen, die heute Förderschule hieß, aber in den Köpfen der Leute immer noch eine Hilfsschule war wie früher. Von einem Moment auf den anderen wäre ihr Leben nichts mehr wert, niemand würde sie mehr ernst nehmen. Jeder würde sie anstarren wie eine Aussätzige.
So beschloss sie, sich selbst auszusetzen, dachte Süden, und niemandem die Chance zu geben, sie zu demütigen. Aber wo hatte Ilka sich ausgesetzt? In welcher Umgebung, wenn sie keine Freunde hatte und sich keinem Menschen anvertraute? Nicht einmal ihrer Schwester. Nicht einmal ihrer Mutter. Nicht einmal ihrer besten Freundin Margit.
Süden hatte keinen Zweifel mehr. Trotz ihrer tiefen innerlichen Zurückgezogenheit gegenüber den Leuten, trotz ihres einsamen Lebens und ihrer Furcht vor Zurückweisung hatte sie bei einem Mann Zuflucht gesucht, der womöglich zufällig ihren Weg gekreuzt hatte und ihr gleichgültig genug war, um ihn um einen aufregenden Gefallen zu bitten.
Bertold Zeisig.
»Denken Sie noch einmal nach«, sagte Süden. »Vielleicht haben Sie den Namen doch schon einmal gehört. Zeisig, Bertold.«
Er hörte das Geräusch schlurfender Hausschuhe hinter sich und drehte sich um. Mit einer Zigarette in der Hand tauchte Dieter Nickl in der Küchentür auf.
»Zeisig«, sagte der Wirt. »Der besoffene Copperfield? Was ist mit dem?«
[home]
11
M it einer Aura von Gemütlichkeit schlurfte Nickl zum Kühlschrank, öffnete ihn, schaute hinein, verharrte, als überwältige ihn ein grundsätzliches Staunen über die verborgenen Dinge des Universums.
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