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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sie nicht gewesen, um mein Verschwinden zu melden. Niemand würde sich heutzutage so verhalten. Wenn ein Kind nach einer Stunde nicht nach Hause kommt, klingelt bei uns im Dezernat das Telefon und uniformierte Kollegen beginnen sofort mit den ersten Befragungen von Nachbarn, noch bevor überhaupt eine offizielle Anzeige vorliegt und wir die genaueren Umstände kennen.
    Meine Eltern hatten einfach abgewartet. Genauso wie die Eltern von Timo und Sara? Welches Motiv steckte hinter deren ungewöhnlichem, beinah verdächtigem Verhalten?
    »Ich bin gespannt, was du morgen rausfindest«, sagte Sonja, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Ich vermute, die Eltern wissen, wo die Kinder sind. Aber sie haben einen Grund es nicht zu sagen.«
    »Was für ein Grund könnte das sein?«, fragte ich.
    Sie überlegte. »Es gibt einen Haken bei dieser Theorie«, sagte sie schließlich.
    »Einen großen Haken«, sagte ich.
    »Ja, Susanne Berghoff hat ihren Sohn als vermisst gemeldet, sie hat sich freiwillig die Polizei ins Haus geholt, nicht sehr gescheit, wenn man etwas zu verbergen hat. Nein, vermutlich weiß sie nicht, wo sich ihr Sohn befindet.«
    »Trotzdem wirkt sie ziemlich ruhig«, sagte ich.
    »Willst du allein mit ihr sprechen?«
    »Nein«, sagte ich, »zusammen mit Martin. Wir hören erst ihr zu, dann ihrem Mann und hernach Bettina Tiller und ihrem Mann, ich hoffe, wir bringen sie wirklich zum Sprechen.«
    »Ich wär gern dabei.«
    »Beim nächsten Mal«, sagte ich. »Du musst mit den Lehrern weitermachen.«
    Wir schwiegen. Sonjas Hand fing an sich zu bewegen.
    »Ich möcht, dass du noch einmal mit mir schläfst«, sagte sie.
    Später, als wir ein Paar waren, sagte sie diesen Satz noch öfter, und manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich darauf wartete.
    Inmitten eines Gewirrs aus Stimmen und Telefonklingeln saß Paul Weber scheinbar unbeirrt an seinem Schreibtisch und hielt mir einen Zettel entgegen, auf dem er einen Vornamen und die Beschreibung eines Mannes notiert hatte.
    »Guten Morgen«, sagte ich. Es war kurz vor acht, Samstag, sechzehnter Dezember.
    »Guten Morgen, Herzensgewinnler«, sagte Weber. Er wartete auf eine Bestätigung.
    Ich sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich so weit vorgedrungen bin.«
    »Das bist du«, sagte er, »schon davor.«
    Es machte mich froh, dass ihm neuerdings wieder ein Lächeln gelang, das nun sein breites Gesicht zierte.
    »Bogdan«, sagte ich. »Hat der Mann keinen Familiennamen?« Ich las Webers Notizen.
    »Er wollte ihn nicht nennen. Er hat gesagt, er will nur mit dir sprechen. Ich hab ihn kaum verstanden, er hat nur gekrächzt.«
    »Wann will er seine Beobachtung gemacht haben?«
    »Mittwoch, gegen Abend.«
    Weber hatte mich zu Hause angerufen, um mir mitzuteilen, ein Zeuge sei aufgetaucht, der die beiden Kinder gesehen habe.
    »Er trägt einen ledernen Trapperhut?«, sagte ich. So stand es auf dem Zettel.
    »So einen braunen mit Fransen«, sagte Weber. »Und einen schwarzen langen Mantel, du kannst ihn angeblich nicht übersehen, wenn ich das bei der Stimme richtig verstanden hab.«
    »Ein Sandler«, sagte ich.
    »Das glaub ich auch.«
    »Ich rufe Martin an und sage ihm, er soll mich am Ostbahnhof abholen.«
    »Soll ich dich begleiten?«
    »Nein«, sagte ich. »Wenn die Aussagen des Mannes was taugen, bringe ich ihn hierher.«

10
    I n einem Lokal im Untergeschoss des Ostbahnhofs traf ich auf einen alten Mann, dessen Stimme zerstört und dessen bartüberwuchertes Gesicht entstellt war.
    Der Hut aus speckigem Leder passte nicht zum fusseligen verdreckten Mantel, das klobige Paar Bergschuhe nicht zu den roten Wollhandschuhen, die an den Fingerkuppen abgeschnitten waren, und die wuchtige, aufgedunsene Statur des Mannes nicht zu der Art, wie er mit abgespreiztem Finger die Espressotasse hielt. Vornübergebeugt saß er an einem kleinen Tisch an der Säule, neben sich einen vollgepackten grünen Rucksack. Er schien mich nicht zu beachten, als ich mich ihm gegenüber hinsetzte. So wenig wegen des graubraunen, schmutzigen Bartes von seinem Gesicht zu sehen war, es genügte, um die schlecht verheilten Narben, die verbrannten Hautfetzen, die Risse und dunklen Flecke zu erkennen, die ihm das Aussehen eines Verunglückten gaben, der aufgehört hatte in den Spiegel zu sehen.
    »Sie sind Bogdan«, sagte ich.
    Er schwieg. Er hielt die weiße Tasse in der Hand, den Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Finger abgespreizt.
    »Ich bin Tabor Süden«, sagte ich.
    Jetzt bemerkte ich, dass er mich

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