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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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dann hast du Tabor überredet«, sagte Sonja.
    »Das war nicht nötig«, sagte ich.
    »Erzähl, wie du weggelaufen bist!«, sagte Weber.
    »Er wollt nicht zum Friseur«, sagte Martin.
    »Hast du dich mit deinen Eltern gestritten?«, fragte Sonja.
    »Nein«, sagte ich.
    »Warum bist du dann weg?«, fragte Weber.
    »Drei Tage war er verschwunden«, sagte Martin. »Das ganze verdammte Dorf war in Aufruhr.«
    »Warum bist du denn weg?«, fragte Weber noch einmal. Ich sagte: »Ich habe das Gesicht meiner Mutter nicht mehr ertragen.«
    Ich sagte: »Wir waren in Amerika, mein Vater, meine Mutter und ich, wir waren in einem Indianerreservat, bei einem Sioux-Schamanen, er sollte meine Mutter heilen.
    Er sollte sie wieder gesund machen. Bis heute weiß ich nicht, wie mein Vater auf diesen Medizinmann gestoßen ist, ich weiß es nicht, er hat es mir verschwiegen, wie er so vieles verschwiegen hat. Ob ich eine bestimmte Eigenschaft von ihm geerbt habe, kann ich nicht sagen. Wie ihr wisst, verschwand er, als ich sechzehn war, ich konnte uns beide also nicht mehr beobachten. Aber in einem bin ich mir sicher: Das Schweigen, das habe ich von ihm geerbt, vollständig. Wir fuhren nach München und flogen von dort nach Amerika, zuerst nach New York, dann weiter nach Oklahoma City, wo wir in einen Bus stiegen. Seltsam ist, ich kann mich an wenig erinnern, ich sehe alte Gesichter und freundliche Frauen, und das flache Haus, in dem meine Mutter in einem weißen Bett lag. Die ganze Zeit während des Fluges habe ich gedacht, wir würden in einem Zelt übernachten, aber wir verbrachten die ganze Zeit in einem Haus. Einmal am Tag ging der Schamane mit meiner Mutter ins Freie, legte sie auf ein Lager aus Strohmatten und Decken und blies Rauch über sie. Er gab ihr aufgebrühte Kräuter zu trinken und hielt seine Hände über ihren entblößten Bauch, der weiß und flach war. Die Schmerzen waren in ihrem Bauch, und kein gewöhnlicher Arzt hatte ihr helfen können. Manchmal schrie sie in der Nacht, und mein Vater legte sich zu ihr und hörte ihrem Schreien mit unbändiger Geduld zu. Ich stand im Flur und horchte an der geschlossenen Tür. Mein Herz schlug schnell, und ich hielt mir die Ohren zu, ich schämte mich dafür, aber ich ertrug dieses Schreien nicht. Ich weiß nicht, woher mein Vater einen Schamanen kannte, ich weiß es nicht. Wir waren dort, der Medizinmann schenkte mir diese Kette mit dem blauen Stein, in den ein Adler geritzt ist. Der Adler ist ein Symbol für das Licht der Erkenntnis, sagte der Schamane. Dann, nach zwei Monaten, fuhren wir zurück, und meine Mutter hatte keine Schmerzen mehr.
    Ich feierte meinen neunten Geburtstag, meine Eltern schenkten mir ein Fahrrad, mein Vater sagte, weil ich so tapfer gewesen sei. Aber ich wusste nichts von meiner Tapferkeit. Ich hatte nur Angst gehabt, die Angst stand wie ein Hochwasser in mir, das nie wieder zurückgehen würde. Das sagte ich ihnen nicht. Darüber habe ich nie mit ihnen gesprochen.
    Zu meinem zehnten Geburtstag bekam ich eine Uhr, die ich eine Woche später bei einem Faustkampf verlor, ich machte sie ab, legte sie auf eine Bank in der Nähe, dann vergaß ich sie, und als es mir wieder einfiel, war sie nicht mehr da. Und dann bemerkte ich die Furcht im Gesicht meiner Mutter. Und es kam mir vor, als sei dieses Gesicht für alle Zeit erloschen, als könne kein Wind es je mehr streicheln, als seien die Striche, die früher Lippen waren, zu Drähten geworden, die bösartigen Strom in das Innere meiner Mutter leiteten, und sie spürte ihn schon und hatte keine Widerwehr.«
    Ich schwieg.
    »Das hab ich ja alles gar nicht gewusst«, sagte Weber. Ich sagte: »Ist vorbei.«
    Nach einer Weile sagte Martin: »Ich wär mitgekommen.«
    »Ja«, sagte ich. »Dann hätten wir uns beide verlaufen.«
    »Komm«, sagte Sonja, »komm mit!«
    Im Abstand von Sekunden schrien wir die Wände an. Die Wände behielten unser Schreien für sich. Dann lag Sonja neben mir, ihr Bauch hob und senkte sich schnell, und sie musste sich aufrichten, um besser Luft zu bekommen. Ich saß im Bett, das Kopfkissen zwischen meinem Rücken und der Wand, und schwitzte. Der Schweiß lief mir übers Gesicht, mein Oberkörper war nass.
    Wir schwiegen, tauschten keine Blicke. Das Fenster war geschlossen, ab und zu hörten wir den Motor eines Autos unten im Hof, einmal rief jemand einen Namen und ein Hund bellte.
    Sonja zog die blaue Baumwolldecke über ihre Beine und den Bauch, aber nicht über den Busen, und ich nutzte die

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