Süden und der Luftgitarrist
als wären sie Männer aus Schnee gewesen, die an einem lauen Frühjahrstag so rasch verschwanden, dass die Kinder nicht einmal Zeit fanden, ihnen hinterher zu winken. Aber das waren nur Bilder, die mir halfen, die Ohnmacht zu ertragen, die ich von vielen Vermissungen her kannte, Vergleiche, die mir in der Wirklichkeit nicht weiterhalfen und auf die ich dennoch angewiesen war, weil die Fakten nichts erzählten, sie zementierten nur die Stille drumherum. Bei fast jedem Fall, den ich bearbeitete, explodierte an einem bestimmten Punkt der Ermittlungen das Orchester der Stimmen, die wir mühevoll zusammengetragen hatten, und hinterließ ein gottloses All. In dieser Finsternis irrte ich genauso umher wie die Angehörigen, alle Worte, die mir zum polizeilichen Jonglieren zur Verfügung standen, hatte ich verbraucht, sie lagen auf den leeren Tischen, den alten Sofas, sie klebten an den geschlossenen Fenstern und Türen und zerknitterten Fotografien, sie schwebten durch die verbrauchte Luft, sie hatten jeden Klang verloren. Das stimmt doch nicht!, sagte ein Vater dann. Wir haben unsere Tochter nicht überbehütet oder gegängelt oder bevormundet, das stimmt doch nicht! Das stimmt doch nicht!, sagte eine Ehefrau dann. Er hat sich nicht gelangweilt, er ist gern zur Arbeit gegangen und auch gern nach Hause gekommen, er war nicht labil oder lustlos, das stimmt doch nicht! Das stimmt doch nicht!, sagte eine Mutter dann. Meine Tochter war nicht einsam, sie hatte Freunde und einen schönen Beruf, und jedes Weihnachten hat sie mich besucht, sie war nicht depressiv, das stimmt doch nicht! Und ich sagte dann, das habe ich nicht behauptet, ich habe Sie nur gefragt. Und sie sagen, nein, das haben Sie behauptet, Sie glauben mir nicht, Sie vermuten, da ist noch etwas, das wir Ihnen verschweigen, aber das stimmt nicht, das stimmt nicht! Und ich wusste, es stimmte, und ich hatte doch keine andere Wahl, als still zu sein, noch stiller und unauffälliger, in der Nähe der Tür, im Halbdunkel, Stellvertreter dessen, der jetzt fehlte. Ich füllte nur den Raum aus, ich verwaltete nur die Luft, die für einen anderen Atem bestimmt war, ich machte mich nur nützlich als Magnet der allgemeinen Furcht. Wie lange die Starre andauerte, hing meist vom Zufall ab, von etwas Lächerlichem wie dem Knurren eines Magens oder dem plötzlichen Überdruss eines Haustiers. Einmal, in einer Nacht, die widerhallte vom Schmerz einer Mutter, schoss der gelbe Kanarienvogel, der mehrere Stunden lang reglos und stumm auf seiner Stange gesessen hatte, aus dem Käfig und begann, mit einem schrillen Piepsen im Kreis durch den Raum zu fliegen, unaufhörlich, in einem so präzisen Kreis, als folge er einer vorgeschriebenen Route. Er piepste laut und böse, und seine Flügel raschelten, und scharfer Wind ging von ihm aus, und nachdem er vielleicht zwanzig Runden gedreht und sich sein Piepsen bis zu einer Form von Hysterie gesteigert hatte, schnellte die Frau, die ihre fünfzehnjährige Tochter vermisste, aus dem Sessel hoch, in dem sie sich die Finger blutig gekratzt hatte, und stürzte sich auf das vorübersausende Tier.
Natürlich erwischte sie es nicht, und je öfter sie daneben schlug – sie schlug mit beiden Händen abwechselnd, als ohrfeige sie die Luft –, desto fanatischer verfolgte sie den Vogel, und wie er drehte sie eine Runde nach der anderen, sie rannte ihm hinterher, exakt im Kreis wie im Zirkus, mit erhobenen Armen und wütenden Händen. Er piepste, sie keuchte und ich wich ihnen aus, drückte mich an den Türrahmen zum Flur, und vor meinen Augen fegte der gelbe Kanarienvogel vorbei, ich sah seinen aufgerissenen Schnabel und seinen aufgeplusterten Bauch und roch den Schweiß und das Parfüm der Frau. Inzwischen musste sie mindestens dreißigmal im Kreis gerannt sein, ohne aus unerklärlichen Gründen den Vogel auch nur berührt zu haben. Und dann stolperte sie über eine Teppichwelle und schlug hart mit dem Gesicht auf, und neben ihrem Kopf fiel der Vogel herab und blieb auf dem Rücken liegen. Benommen richtete sich die Frau auf und rang nach Luft, und als sie das tote gelbe Tier bemerkte, weinte sie hemmungslos, aber ich bildete mir ein, es war das Lachen ihres maßlosen Schmerzes. So lächerlich erschien mir der Anblick des erledigten Vogels und so unerträglich hilflos kam ich mir beim Anblick der auf dem Boden knienden lachweinenden Frau vor, dass diese Szenen wieder und wieder in meinen Träumen auftauchten, hell und real, und ich hörte das Piepsen,
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