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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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uns am Couchtisch gegenüber, und der Ordner lag zwischen uns. Die Einrichtung des Wohnzimmers war gediegen und kleinbürgerlich, zwei Eichenschränke in unterschiedlichen Größen für Geschirr und Bücher, weiße Stores bis zum Boden, eine helle Sitzgruppe, eine Stehlampe, ein klobiger Fernseher, Perserbrücken auf dem braunen Auslegeteppich. Alles in diesem Zimmer schien seinen unveränderbaren Platz zu haben, die Pflanzen, die Zeitungen, die Obstschale, die gerahmten Fotografien, die Sessel und die Couch. Vielleicht hatten die Jagodas ihr Zuhause komplett von den Eltern übernommen. Für ein Ehepaar, bei dem der Mann sechsundvierzig und die Frau einundvierzig war, wirkte das Zimmer altbacken und verstaubt, obwohl ich nirgends auch nur den geringsten Staub entdecken konnte. Und kaum war ich in den Sessel gesunken, hatte ich den Eindruck, ich käme nie wieder hoch .
    »Was sagen Sie?«
    Einen Moment dachte ich, Jagoda beziehe sich auf meinen Eindruck von der Wohnung.
    »Sie haben Recht«, sagte ich. »Es ist eine unvorstellbare Tragödie.«
    Er beugte sich vor. Zur grauen Cordhose trug er ein dunkelblaues Hemd und eine unauffällige dunkelrote Krawatte. Er legte die Hände gefaltet auf den Tisch, und ich bemerkte seine unregelmäßig geschnittenen Fingernägel .
    Er sah noch bleicher und müder aus als am Morgen, seine knochigen Wangen waren übersät von Stoppeln, seine Augen rot unterlaufen. Offensichtlich hatte er sich nicht rasiert und möglicherweise auch nicht geduscht – seine Haare klebten ihm am Kopf –, und er verbreitete einen unangenehmen Duft nach billigem Aftershave .
    »Woher wollen Sie wissen, wie es meiner Tochter ergangen ist?«, sagte er, den Blick starr auf mich gerichtet, als müsse er sich zwingen, die Augen offen zu halten .
    »Ich habe mit einem Jungen aus ihrer Klasse gesprochen«, sagte ich .
    »Mit welchem?«
    »Er sagt, Anna hatte Angst.«
    »Wie heißt der Junge?«, fragte Jagoda und streckte den Rücken.
    »Ich möchte den Namen nicht nennen.«
    »Warum denn nicht?«
    »Ich bin nicht in der Sonderkommission, Sie müssen meinen Kollegen vertrauen, Herr Jagoda.«
    »Ich vertrau ihnen nicht«, sagte er. Immer noch hatte er die Augen weit aufgerissen, und er presste die gefalteten Hände aneinander .
    Ich schwieg.
    Dann seufzte Jagoda laut, ließ die Hände in den Schoß sinken, lehnte sich zurück und schloss die Augen, mindestens eine halbe Minute lang. »Kann sein, dass sie etwas verheimlicht hat«, sagte er und bemühte sich wieder aufrecht zu sitzen. Ungelenk ruckte er ein paar Mal vor und zurück. »Ich hab sie zur Rede gestellt, sie hat mir nichts gesagt. Sie kann störrisch sein. Das duld ich nicht, bei keinem meiner Schüler. Ihrer Mutter hat sie auch nichts verraten, und die beiden sind wirklich enge Freundinnen, sie lieben sich sehr. Sehr. Übrigens soll ich Ihnen von meiner Frau ausrichten, sie bitte Sie um Entschuldigung, aber sie sei nicht angezogen und sie … Ich hab Ihnen erzählt, sie liegt im Bett … in Annas Zimmer … Angst. Was für ein Wort! Dieser Junge … Ich will gar nicht wissen, wer das ist .
    Die haben alle Probleme damit, wenn jemand ihnen was verbietet oder ihnen was von der Notwendigkeit der Schule fürs Leben erzählt … Angst. Anna war ein heiteres Mädchen, kein ängstliches … Jetzt rede ich schon im Imperfekt, mein Gott …«
    Nach einem Moment des Innehaltens schnellte er in die Höhe. »Ich hol mir noch so ein Bier. Wollen Sie wirklich keins?«
    »Nein«, sagte ich. »Hat Anna noch mehr schwarze Bilder gemalt?«
    »Die restlichen hat sie weggeschmissen«, sagte Jagoda an der Tür zum Flur. »Es gibt nur noch das eine.«
    Ich sagte: »Wer könnte dieser Mann sein?«
    »Das haben mich Ihre Kollegen tausendmal gefragt! Irgendwer! Das Bild ist noch nicht fertig.« Seine Stimme wurde lauter, schneidender. »Haben Sie das nicht bemerkt?«
    Von einer plötzlichen Wut angestachelt, stellte er die leere Bierflasche, die er vom Tisch mitgenommen hatte, auf den niedrigen Schuhschrank im Flur und kam ins Wohnzimmer zurück. »Ein Jahr ist jetzt vorbei! Und niemand weiß was! Und Sie fragen mich, wer diese verdammte Figur auf dem unfertigen Bild ist! Was weiß denn ich? Niemand weiß das, nur Anna! Aber die finden sie ja nicht! Die ist vom Erdboden verschwunden! Angst! Was denn für eine Angst, Herr Süden! Wer sagt denn so was! Was ist das für ein verdammter Schüler, der so was über meine Tochter sagt? Ich krieg das raus, das schwör ich Ihnen! Und dann

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