Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
Ferenz .
Ich antwortete nicht.
»Ist sie auch Polizistin?«
»Ja.«
Er trank, leckte sich die Lippen und zog die Stirn in Falten. »Schmeckt, als hätte ein Dilettant Wasser in Wein verwandelt.«
»Glauben Sie an Gott?«, sagte ich. Diese Frage wollte ich ihm schon die ganze Zeit stellen, ich wusste nicht, was ich damit bezweckte, sie ging mir nicht aus dem Kopf, ich erwartete eine Antwort, unbedingt .
»Eigenartig«, sagte er. »Das Gleiche wollte ich Sie auch gerade fragen.« Er stellte das Glas ab, drehte es einmal im Kreis, schob es von sich weg. »Im Übrigen sind Sie der Erste, der mir diese Frage stellt, nicht mal der Bischof, der mich geweiht hat, und keiner meiner Kollegen konfrontierte mich je mit so einem Gedanken. Jetzt, da Sie das gesagt haben, wundere ich mich, dass noch keines der Kinder, die ich unterrichte, auf die Idee gekommen ist. Ist das nicht die Frage eines Kindes an einen Priester?«
»Vielleicht«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Ich glaube an Gott. Wenn ich es nicht täte, wär ich hier verkehrt. Und nun sind Sie dran. Glauben Sie an Gott?«
»Manchmal«, sagte ich wie schon oft. »Wenn es mir gut geht.«
»Und wenns Ihnen schlecht geht?«
»Dann versuche ich, an mich zu glauben.«
»Sind Sie katholisch?«
Ich sagte: »Ich zahle Kirchensteuer.«
Er schwieg eine Zeit lang. »Hätte das Mädchen gerettet werden können?«
»Nach dem Stand der Ermittlungen war sie nicht zu retten«, sagte ich.
»Nach dem Stand der Ermittlungen war sie nicht zu retten«, sagte Ferenz, ohne mich nachzuahmen, er sagte den Satz teilnahmslos, sachlich. »Sie haben Worte, um sich selbst nicht auszuliefern.«
»Wie Sie«, sagte ich.
»Wir haben nichts anderes als Worte«, sagte Ferenz .
»Ja«, sagte ich. »Worte, Umarmungen und das Winken.«
»Das Winken?« Er hob den Kopf, seine Augen waren groß und dunkel.
Ich sagte: »Als mein Vater unser Zuhause verlassen hat, hier in Taging, schaute ich aus dem Fenster, und er drehte sich auf der Straße noch einmal um und winkte. Er konnte mich hinter der Gardine nicht sehen, er winkte nur so, vielleicht winkte er dem Haus, dem Garten, einer Erinnerung. Seither beobachte ich jedes Winken, auf der Straße, am Bahnhof, irgendwo.«
»Und hoffen, dass Ihr Vater umkehrt«, sagte Ferenz. »In Ihrer Vorstellung.«
»Ich hoffe nicht mehr«, sagte ich. »Sprechen wir über das Verbrechen an dem kleinen Mädchen.«
»Über den Verbrecher«, sagte er .
»Sagen Sie mir, warum er es getan hat.«
»Es gibt keine Rechtfertigung«, sagte Anatol Ferenz. »Offensichtlich hatte er jedes Vertrauen in Gott verloren.«
Ich sagte: »Oder Gott das Vertrauen in ihn.«
9
» B eten hilft nichts«, sagte Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, in der ich zwölf Jahre lang als Hauptkommissar arbeitete. »Entweder wir finden die junge Frau innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden, oder wir müssen damit rechnen, dass die Entführer sie töten. Bringt der Vater das Geld auf?«
Unmittelbar vor dem am Starnberger See gelegenen Grundstück des Showmasters Ronny Simon war die zweiundzwanzigjährige Tochter Lucia von Unbekannten in einen Lieferwagen gezerrt und verschleppt worden .
Am Abend desselben Tages tauchte auf dem Bavaria-Filmgelände, wo regelmäßig Simons Live-Shows stattfanden, ein Brief auf, in dem eine Million Euro Lösegeld für die Freilassung des Mädchens gefordert wurden. Sollte Simon das Geld nicht bezahlen, würde Lucia sterben.
Drei Tage nach der Entführung, am Samstag, dem zehnten Juli, nahm ich zum ersten Mal an einer Besprechung der Sonderkommission teil, die zunächst aus zwanzig Kollegen bestand. Später arbeiteten rund sechzig Kommissarinnen und Kommissare rund um die Uhr an dem Fall, und im Lauf der folgenden vier Monate wuchs die Gruppe auf einhundertzwanzig Mitglieder an, von denen nur ein Teil aus dem Dezernat 11 stammte .
Unser Dezernat bestand neben der Vermisstenstelle, dem Kommissariat 114, aus vier weiteren Abteilungen, der Mordkommission, dem K 112 (den Todesermittlern, die unter anderem für tödliche Betriebsunfälle und Selbsttötungen zuständig waren), der Brandfahndung, die sich auch um Umweltdelikte kümmerte, sowie dem K115, der operativen Fallanalyse, deren Spezialisten Täterprofile erstellten und modernste Vernehmungstaktiken anwendeten.
Heute befinden sich sämtliche Kommissariate unter dem Dach des Polizeipräsidiums in der Münchner Ettstraße .
Als letzte Abteilung zog damals die Vermisstenstelle aus dem
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