Süden und die Frau mit dem harten Kleid
.
»Mein Sohn wird sich nicht umbringen. Blasen Sie bloß dieses Polizeitrara ab! Das ist ja peinlich, was meine Tochter da angezettelt hat!« Sie wirkte, als sei sie aus einem Tiefschlaf erwacht. Sogar ihre Augen weiteten sich, und ihre Hände flogen auf und nieder. »Was bedeutet das überhaupt, Sie suchen nach ihm? Kommt sein Bild jetzt in der Zeitung?«
Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen .
»Haben Sie ein Foto von Ihrem Sohn?«
»Wozu?«, fragte sie.
»Ich würde gern eines mitnehmen«, sagte ich. »Wir brauchen es vielleicht für die Fahndung.«
»Nach meinem Sohn wird nicht gefahndet!«, rief sie . »Hauen Sie ab!«
Jetzt war ich es, der Schweigen verbreitete. Für den radikalen Umschwung in ihrem Verhalten gab es meiner Einschätzung nach nur eine Erklärung: Sie hatte, nach langer Zeit, deinen Vater getroffen, und diese Begegnung hatte sie derart aufgewühlt, dass sie zunächst versuchte, ihre Empörung oder Ratlosigkeit mit aller Macht zu unterdrücken. Bis sie begriff, dass das Auftauchen ihres Sohnes keine Privatsache mehr war .
»Was machen Sie noch hier?«, blaffte sie .
Warum lebte sie in dieser Wohnung? In dieser Gegend? Hatte ihr Mann das gesamte Vermögen mit in seine Heimat genommen und ihr nichts gelassen? Bekam sie überhaupt eine Rente?
Je länger ich schwieg, desto nervöser wurde sie. Und gerade als sie zu einer Äußerung ansetzte, die garantiert laut ausgefallen wäre, sagte ich: »Wenn Sie ein Foto von Ihrem Sohn haben, geben Sie es mir bitte!«
Sie benötigte zwei Anläufe. »Ich … Ich hab keins. Verstanden?«
Bevor wir uns gegenseitig mit neuem Schweigen bestraften, sagte ich auf Wiedersehen und ging .
In der Nähe des lang gezogenen zweistöckigen Wohnblocks mit den drei Holztüren und der gelben Fassade setzte ich mich in den Dienstwagen, den ich mir ausnahmsweise geliehen hatte, weil ich unterwegs allein sein wollte, und wartete. Ich wartete, weil ich einerseits ratlos war und andererseits ziemlich sicher, dass Hanne Farak uns zu ihrem Sohn führen würde. Nur konnte ich mir nicht erklären, warum sie dieses Spiel trieb und warum meine Frage, ob sie ihren Sohn hasse, sie auf so drastische Weise aus dem Gleichgewicht gebracht hatte .
Eine Viertelstunde später verließ sie das Haus und winkte aufgeregt dem langsam näher kommenden Taxi, das sie offensichtlich bestellt hatte.
6
I m Grunde hatte ich mit dem Ziel gerechnet. Und auch wieder nicht. Zu viel zu falsch gehofft. Sie stieg aus dem Taxi und ging mit schnellen Schritten zur Haustür, klingelte, schlug ungeduldig mit der Hand dagegen, klingelte ununterbrochen weiter und stieß, als vermutlich das Summen ertönte, die Tür so heftig auf, dass diese gegen die Wand im Treppenhaus krachte. Ich blieb im Wagen sitzen.
Jetzt würde Hanne Farak mit ihrer Tochter sprechen .
In der Zwischenzeit rief ich im Dezernat an und erkundigte mich bei dem Kollegen, der Wochenenddienst hatte, ob auf die Vermisstenmeldung Reaktionen erfolgt seien.
»Bisher nichts«, sagte Paul Weber .
»Wie gehts dir?«, fragte ich ihn.
»Der Computer lenkt mich ab.«
Vor drei Wochen hatten wir seine Frau zu Grabe getragen, siebenundzwanzig Jahre sind die beiden verheiratet gewesen. Sie war an Krebs gestorben, nachdem es schon schien, als habe sie die Krankheit überwunden. Paul war neunundfünfzig und damit der dienstälteste Kommissar in der Vermisstenstelle. Ich kannte ihn länger als jeden anderen Kollegen außer Martin. Manchmal, wenn wir Spätdienst hatten, teilten wir eine gute Stille. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, streckte Paul die Hand aus, hielt den Arm schräg nach unten und seine Finger zeigten auf die Grube, als würde er den Sargträgern den Weg weisen. Oder seiner Frau. Oder sich selbst. Oder seinem Schatten.
»Und du?«, sagte er. »Wo treibst du dich rum?«
»Ich war bei der Mutter, sie hat mich angelogen.«
Das ist nichts Besonderes, musst du wissen, uns lügt jeder an. Wohin wir auch kommen, um welche Art Fall es sich handelt, niemand sagt einfach die Wahrheit. Sogar wenn Kinder verschwunden sind und die ganze Familie vor panischer Aufregung kaum denken kann, sind Eltern dazu in der Lage, uns falsche, manipulierte, unvollständige Informationen zu geben; sie wollen einfach, dass wir bestimmte familiäre Dinge nicht erfahren, sie versuchen günstiges Licht zu verbreiten, weil sie sich schämen oder schuldig fühlen. Wir sind keine Richter. Wir ermitteln nur, wir tragen Indizien und Beweise zusammen, wir
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