Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Hanne Farak hatte nicht zurückgerufen. Obwohl Sonja ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Sohn verschwunden war und möglicherweise eine Gefahr für sein Leben bestand.
Auf meinem Heimweg an diesem frühen Samstagmorgen fragte ich mich, was wohl das größte Unglück für Hans wäre. Was sein Herz nicht leicht, sondern mühlsteinschwer machen würde. Wenn er nach Hause käme und seine Mutter wäre gestorben? Wenn er den Goldklumpen zurückbekäme?
Was wäre das größte Unglück für deinen Vater? Was war sein größtes Unglück?
Du weißt es, und ich hatte keine Ahnung in jener Nacht auf der Brücke, unter der ein schwarzer Fluss rauschte, während lauter Fragen durch meinen Kopf rasten wie Meteore.
Vor mir lag ein dienstfreies Wochenende, an dem ich nichts anderes tun würde als arbeiten.
»Ich dachte, wir gehen vielleicht ins Kino«, sagte Sonja Feyerabend am Telefon. »Hatten wir das nicht ausgemacht?«
»Halb«, sagte ich. »Haben Sie mit dem Vermieter gesprochen?«
»Ja«, sagte sie. »Farak hat die Miete für Oktober bezahlt, für den November noch nicht. Trotzdem werde ich Sie nicht zu der Mutter begleiten, ich hab frei. Die Fahndung ist unterwegs, was wollen Sie im Moment weiter tun?«
Ich sagte: »Eindrücke sammeln.«
»Dann sammeln Sie Eindrücke, ich sammele Energie . Wiederhören!«
Sie legte schneller auf als ein Kind einmal mit dem Seil springen kann. Ich rief Martin Heuer an, aber er war nicht zu Hause.
Martin war es, der mich zur Polizei gebracht hatte, weil wir beide nicht wussten, was wir nach dem Abitur anfangen sollten. Wir wussten nicht einmal, wieso wir überhaupt das Abitur gemacht hatten. Unsere Eltern hatten uns aufs Gymnasium geschickt, und wir ackerten uns durch die Jahre. Seit zwölf Jahren arbeite ich nun auf der Vermisstenstelle, vorher war ich im Mord und kurze Zeit beim Rauschgift. Ich bin Beamter, es gibt Leute, die behaupten, ich sei ein guter Polizist. Was ist das, ein guter Polizist? Ich fange vermisste Kinder ein und bringe sie ihren Eltern zurück, ich stöbere Erwachsene in ihren Verstecken auf, ich überrede sie umzukehren, es noch einmal im alten Leben zu versuchen, ich höre zu, das ist alles, worin ich gut bin.
Jeden Monat einmal denke ich darüber nach, den Dienst zu quittieren, die Pension in den Wind zu schreiben, aufzubrechen. Und dann fällt mir kein Ort ein, kein Ziel, dann fehlt mir die Leidenschaft.
Ich lebe allein, seit meine letzte Freundin, eine Straßenbahnfahrerin, mich verlassen hat. Ihre Entscheidung war plausibel. Was sollte sie auf Dauer mit einem Mann anfangen, der entweder arbeitet oder sein Alleinsein zelebriert? Außerdem trinke ich regelmäßig und nicht wenig.
Im Moment habe ich ein Verhältnis mit einer Wirtin, die ich aber nie anrufe .
Ich hatte Zeit am Wochenende.
Bevor ich an der Haustür in der Einhornallee vierzehn klingelte, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die nasse gelbe Wand, schloss die Augen und dachte an die leere Wohnung, die Johann Farak irgendwann vor dem achten Oktober verlassen hatte. Ich wollte, wenn ich gleich seiner Mutter gegenübertrat, von dieser Leere besessen sein.
»Sie haben sich umsonst bemüht«, sagte sie an der Tür .
»Mein Sohn hat sich schon lange von mir abgewandt.«
Sie war eine schlanke Frau um die siebzig mit einem bewegungslosen Gesicht. Stumm führte sie mich ins Wohnzimmer, dessen Einrichtung so abweisend wirkte wie die Bewohnerin. In einem Schrank aus Eichenholz Bücher hinter Glas, ein Sofa mit demselben dunklen Stoff bezogen wie der Stuhl, der so tief unter den Tisch geschoben worden war, dass seine Lehne die graue Wachstuchdecke berührte. Anscheinend saß nie jemand dort. In diesem wie vermutlich auch in den anderen Räumen bewegte man sich auf braunem Nadelfilz, ein Teppichboden, von dem ich immer schon dachte, er würde ein schäbiges Licht machen.
Warum lebte die Frau eines einstmals angesehenen Zahnarztes in einer solchen Billigwohnung, noch dazu direkt an der Autobahn, in einer Gegend am Stadtrand, deren grünste Ecken man im nahen Waldfriedhof suchen musste?
»Wenn Sie wollen, setzen Sie sich«, sagte sie .
Ich zog den Stuhl unter dem Tisch heraus und setzte mich. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet. Sie verfolgte meine Bewegungen mit stummer Feindseligkeit.
Ich stellte meine Frage: »Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«
»Das ist Jahre her.«
Ich sah sie an. Sie hatte die Arme verschränkt und stand da wie von unsichtbaren Ketten umschlungen. Sie
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