Süden und die Frau mit dem harten Kleid
sammeln Erkenntnisse, deren Bewertung uns schon nicht mehr zusteht.
»Was denkst du über den Fall?«, fragte Paul Weber .
Er wollte reden und ich hatte Zeit. Von meinem Auto aus konnte ich die Eingangstür in der Bauerstraße im Auge behalten.
»Das Mädchen ist merkwürdig«, sagte ich. »Das Mädchen aus dem Treppenhaus.«
»Ist sie seine Geliebte?«
»Möglich«, sagte ich. »Sie ist ihm jedenfalls wichtig und er ihr auch. Ich hoffe, ich finde sie wieder.«
»Du musst in diese Kneipe gehen, wo sich die beiden getroffen haben«, sagte er .
»Ja.«
Dann schwiegen wir.
Im Hintergrund hörte ich eine Stimme. Paul hielt die Sprechmuschel zu, bevor er leise sagte: »Der Chef macht Überstunden.«
»Das bedeutet, er ist auf der Flucht«, sagte ich .
Volker Thon, der die Vermisstenstelle im Dezernat 11 leitet, ist der einzige Kommissar in unserer Abteilung, der verheiratet ist und Kinder hat. Manche Kollegen halten ihn für eingebildet und versnobt, ich halte ihn für einen fähigen und verantwortungsvollen Polizisten und ansonsten für weitgehend unerträglich. Meist kommt er mit einem Seidenhalstuch, an dem er ununterbrochen nestelt, teuren Schuhen und einem Leinensakko ins Büro, er duftet nach teurem Eau de Cologne, und ich schätze, seine Socken kosten mehr als alles, was mein Freund Martin Heuer gewöhnlich am Leib trägt .
Doch der wahre Grund, warum ich Volker Thon für unerträglich halte, ist, dass er mir jeden Tag von neuem durch seine bloße Anwesenheit zeigt, wie weit ich mich ins Abseits manövriert habe. Niemand hat mich gezwungen, ich habe mich allein dorthin gebracht, wo ich mich befinde, in einem Winkel jenseits jeder Gemeinschaft .
Du wirst einwenden, ich sei Polizist und damit mittendrin in einer Gemeinschaft und täglich gezwungen, in einer Gruppe zu funktionieren. Das ist wahr. Und ich funktioniere auch. Doch dieses Funktionieren ist nichts weiter als ein Halt. Hätte ich diesen Beruf nicht, würde ich vermutlich überhaupt keinen Beruf ausüben, und ich werde meinem Freund Martin immer dankbar sein, dass er mich damals zur Polizeischule überredet hat. Ich weiß nicht, was sonst aus mir geworden wäre .
Jemand wie dein Vater?
Hatte er nie die Möglichkeit gehabt, einen Beruf zu erlernen? Weder seine Schwester noch seine Mutter wussten, womit er Geld verdiente. Und der Nachbar sagte, Johanns ehemalige Freundin, die Lehrerin, habe ihn ausgehalten. Traust du ihm das zu? Er kam in die Stadt, um nichts anderes zu tun als Holzbretter zu bemalen? Mehr als fünfzehn Jahre lang?
»Warum beschäftigt dich der Fall so?«, fragte Paul Weber.
»Johann Farak gehörte nirgends dazu«, sagte ich .
»Das ist was anderes«, sagte Weber, der mich schon so lange kennt. »Du gehörst dazu, zu uns, zu deinen Freunden …«
»Ja«, sagte ich.
»Es ist wichtig, eine Familie zu haben, jemanden, mit dem man die Sachen teilt …«
Und das Zimmer, dachte ich.
»… und mit dem man sich später gemeinsam erinnern kann, sonst verkümmert was in dir, sonst verkrustet und versteinert alles in dir.«
Ich musste an den Satz denken, den Mathilda gesagt hatte: Mein Bruder ist daran kaputtgegangen wie eine Skulptur aus Glas, die man in eisige Kälte stellt .
»Du hast frei, Tabor«, hörte ich Paul von ferne sagen .
»Geh ins Kino, mach was für dich! Das ist ein Fall wie jeder andere.«
»Ja«, sagte ich.
Es fing leicht zu regnen an, und im Auto war es kalt .
Wieder schwiegen wir. Und nach einer Weile hörte ich durchs Telefon, wie jemand rief: »Was ist das denn für eine unfertige Meldung?« Es war Thon, wahrscheinlich hatte er gerade die neuen Akten gelesen .
»Ruf mich noch mal an!«, sagte Weber. Ich legte den Hörer auf und sah aus dem Fenster. Leute mit Plastiktüten voller Lebensmittel bogen um die Ecke, geduckt unter dem Regen, mit ausdruckslosen Gesichtern. Aus der Tür, die ich beobachtete, kam niemand. Ich überlegte, was ich tun solle, wenn deine Großmutter herauskam. Ihr weiter folgen? Zu deiner Tante hinaufgehen und sie fragen, worüber sie gesprochen haben? Ich dichte dir eine Familie an.
Plötzlich sollst du zu einer Familie gehören, die dich nicht kennt. Wird es eines Tages wichtig für dich sein, eine Familie zu gründen? Mit jemandem das Zimmer zu teilen, in dem das Leben stattfindet, in den großen wie in den armseligen Zeiten? Du hast nicht gelernt, wie es ist, in einer Familie aufzuwachsen, deine Mutter hat dich alleine groß gezogen, vermutlich hatte sie immer wieder Freunde,
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