Süden und die Schlüsselkinder
Freundin.«
»Bin nicht seine Freundin.«
»Warum bist du dann mit mir mitgekommen?«
Sie steckte den Brezenfinger in den Mund, kaute darauf herum, biss ein Stück ab, bemerkte, dass die junge türkische Verkäuferin hinter der Ladentheke sie beobachtete, und drehte ihr den Rücken zu.
Süden brachte die Teller und Tassen zur Theke. Dann stellte er sich wieder neben das Mädchen. Sie schaute aus dem Fenster, umschloss den Brezenfinger mit der anderen Hand wie eine Verletzung.
Süden schwieg.
Unaufhörlich gingen Leute vorüber, Mützen oder Hüte tief ins Gesicht gezogen. Einige hielten einen Schirm, dessen Gestänge an die Fensterscheibe klopfte, schief gegen den Wind. Fanny wandte Süden den Kopf zu.
»Ich wollt schauen, was du machst«, sagte sie. »Ich wollt gern in die Stadt.«
Sie log, aber Süden verstand immer noch nicht, warum und was sie verbarg. Wieder tröstete ihn der Gedanke, dass der Junge, solange Fanny SMS -Nachrichten von ihm erhielt und unübersehbar ein Geheimnis hütete, am Leben war und ein bestimmtes, realistisches, zu einem späteren Zeitpunkt auch für Außenstehende erkennbares Ziel verfolgte.
In dem Moment jedoch, wenn die Verantwortlichen des Zeno-Hauses die Polizei einschalteten, würde das Mädchen aus ihrer Selbstverborgenheit gerissen werden und kein Kommissar sie weiter schweigen lassen.
Ungefähr fünf Mal im Jahr war Süden in seiner Zeit als Vermisstenfahnder der Kripo mit einem »Super- GAU « konfrontiert worden, dem Verschwinden eines Kindes. Dann arbeiteten er und rund hundert Kollegen nächtelang durch, überprüften sämtliche Beziehungen des Kindes zu Schulfreunden und Verwandten im In- und Ausland, kontrollierten S- und U-Bahnen, überprüften Kaufhäuser und Friedhöfe, wo sich vor allem Jugendliche gern aufhielten, setzten Hubschrauber mit Wärmebildkameras, Hunde- und Pferdestaffeln ein.
Häufig wurde die Fahndung dadurch erschwert, dass die Eltern familiäre Konflikte nicht zugeben wollten und wichtige Informationen zurückhielten.
Auch auf die Aussagen von Zeugen war nicht immer Verlass. Trittbrettfahrer, Wichtigtuer und Wahrsager riefen an und behaupteten Dinge, die trotz aller Unwahrscheinlichkeit verifiziert werden mussten.
Unter einem solchen Druck der Ermittlungen würde Fanny ihr Geheimnis keine Stunde länger für sich behalten können. Süden wollte ihr noch Zeit geben, abwarten, wie sie gegenüber Hannah Richter, der Mutter des Jungen, auftrat.
Er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Fanny mit ihm und den Erzieherinnen spielte und dieses Spiel so lange wie möglich weitertreiben wollte, bis ihr die Lust daran verging. Er hatte sie mitgenommen, um dieses Spiel nicht aus den Augen zu verlieren.
Außerdem hatte Fanny auf eine ihn seltsam irritierende Weise recht: Er war bei dieser Suche lieber mit ihr zusammen als allein. Warum das so war, würde er später ergründen, vielleicht.
»Ich kann auch wieder nach Haus fahren«, sagte Fanny mit verzurrter Miene.
»Niemals«, sagte Süden.
[home]
5
I m Zimmer roch es nach geschälten Orangen. Die Schalen lagen verstreut auf dem kleinen runden Tisch beim Fenster, Reste einer Orange auf dem Teller, den Hannah Richter neben sich auf die Couch gestellt hatte.
Über das Doppelbett war eine rotbraune Decke gebreitet, auf dem Nachtkästchen standen eine grüne Plastikflasche mit Mineralwasser und ein Glas, daneben auf dem Boden ein Paar Fellstiefel und schwarze Winterschuhe. Die Deckenlampe verbreitete gelbliches Licht.
Das Hotelzimmer im zweiten Stock war karg eingerichtet, wirkte aber weniger abweisend als viele andere, die Süden im Vergnügungsviertel rund um den Hauptbahnhof und die Schiller- und Goethestraße kannte. Adrians Mutter war neununddreißig, hatte ein schmales, blasses Gesicht mit tiefen Furchen und blonde, kreuz und quer ineinandergesteckte Haare. Ihre blauen Augen waren ungewöhnlich hell. Wenn sie jemanden länger ansah, blinzelte sie kaum, was ihre sonst eher lebhafte Mimik erstarren ließ.
Obwohl sie auf den ersten Blick Ruhe ausstrahlte, spürte Süden das Unberechenbare in ihrem Wesen. Er sah ihre Finger, wie sie sich ins Polster gruben oder über den Stoff kratzten, und fragte sich, wie lange sie ihre verkrampfte Haltung ertragen würde. Ihr Händedruck an der Tür war fest und kalt gewesen. Dem Mädchen hatte sie nur zugenickt, als würde sie es kennen. Wortlos hatte Fanny sich auf einen der Stühle am Tisch gesetzt, Süden blieb neben dem dunklen Kleiderschrank stehen.
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