Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
Frau. Und er hörte ein Rauschen. Wellen. Wellen, die bis in dieses Zimmer schwappten.
Und er streckte die rechte Hand aus. Über seine Fingerkuppe strich der Wind. Das spürte er. Keine Täuschung. Das war die Wirklichkeit. Gleich würde sich eine Möwe auf seiner Hand niederlassen. Unerschrockener weißer Vogel. Und Niklas wagte nicht den Kopf zu bewegen. Seine Mutter musste unbedingt das Schauspiel sehen. Mama, sagte er leise. So leise, dass der Wind das Stimmchen schon gefressen hatte, bevor es die Möwe erreichte. Mama. Aber sie reagierte nicht. Das Wasser kitzelte ihn an den Zehen. Und die Möwe auf seiner Hand schaute in die Ferne. Und sein Arm fing an zu zittern. Lange würde er ihn nicht ausgestreckt halten können. Mama Mama. Wo war sie denn? Jetzt bewegte er doch den Kopf. Er hielt es nicht mehr aus. Da flog die Möwe davon. Und schrie in den Himmel. Und Niklas lief ihr hinterher, durch den heißen Sand, am Ufer entlang, das von immer mehr Wasser überspült wurde. Und dann wusste er nicht mehr, welche der Möwen über ihm die seine war. Und er blieb stehen. Und drehte sich um. Seine Eltern waren verschwunden. Panik erfasste ihn. Irrwitzige Panik. Leute lagen auf Matten im Sand. Er lief zu einer Frau und fragte sie: Haben Sie meine Mama gesehen? Und die Frau sagte etwas, das er nicht verstand. Und er rannte weiter. Und fragte einen jungen Mann, der eine schwarze Sonnenbrille trug: Haben Sie meine Mama gesehen? Und der junge Mann sagte: Nein. Und Niklas rannte weiter. Der Sand spritzte hoch auf. Und sooft er sich auch im Kreis drehte, nirgendwo tauchte seine Mutter auf. Oder sein Vater. Er lief eine Anhöhe hinauf. Von hier waren sie gekommen. Ganz bestimmt. Und links in der Entfernung stand ein Wohnwagen mit einer Theke, da konnte man Eis und Würstel kaufen. Niklas hatte Leute essen sehen. Rechts von ihm waren Büsche und Gestrüpp. Und er hörte eine Stimme. Und ohne zu überlegen, rannte er hin.
Nie zuvor hatte er seine Mutter nackt gesehen. Oft trug sie kurze Röcke oder hatte, nachdem sie gebadet hatte, nur ein Handtuch umgeschlungen. Sie kniete im Sand. Auf seinem Vater. Der lag da, die Hände an ihrem Busen. Auch er war nackt. Die roten Haare seiner Mutter fielen über ihre weiße Haut mit den vielen dunklen Punkten, die Niklas bemerkte, auch von so weit weg. Und der Wind blies ihm gemein in die Augen.
Er war stehen geblieben. Die Arme baumelten an ihm herunter. Und wieder, wie vorher, streckte er den Arm aus. Wunderschön, sagte er leise. Und wieder fegte der Wind seine Stimme fort. Und seine Mutter hörte ihn nicht. Jetzt drehte sein Vater langsam den Kopf. Und für einige Sekunden, die ihm bis heute ein Rätsel geblieben waren, fürchtete er um das Leben seiner Mutter. Doch der Blick seines Vaters war wie immer, nicht einmal besonders überrascht. Er lächelte. Und nahm die Hände nicht weg. Niklas blinzelte. Jetzt legte Mama ihre Hände auf die seines Vaters. Und plötzlich verspürte Niklas einen Schmerz, der seinen ganzen Körper erfüllte. Einen Schmerz, von dem er augenblicklich dachte, er würde nie wieder weggehen.
Einunddreißig Jahre später wusste er, dass er damit recht gehabt hatte.
Für die restlichen drei Biere drehte Schilff der Wand den Rücken zu. Das Bett im Blick. Ein trauriges Bett. So traurig wie jenes, in dem er seine Mutter zum zweiten Mal nackt gesehen hatte.
Die Geschichte vom Elch geht so, hör zu: Der Elch kann stundenlang allein spazieren gehen, und wenn er einem Fahrradfahrer begegnet, haut er ihn um. Er meint das nicht böse, er kann nur nicht anders. Überhaupt halten ihn manche von seinen Nachbarn, Schlangen, Eulen, vor allem Krähen, für selbstgefällig, unberechenbar und gefährlich. Die Meinung anderer stört den Elch nicht. Nicht einmal die Meinung seiner Frauen nimmt er ernst. Er hört ihnen aber zu und nickt oft. Wenn er jung ist, versucht der Elch, einer Elchin treu zu bleiben, das fällt ihm eher schwer. In reiferen Jahren schart er mehrere Weibchen um sich, die alle eifersüchtig aufeinander sind. Aber der Elch kann nicht anders. Gelegentlich rennt er einem Bären davon, nur um zu beweisen, dass er schneller ist. Nachts unterhält sich der Elch mit dem Mond, sie sprechen dieselbe Sprache. Es kommt vor, dass der Mond im riesigen Geweih des Elches ausruht und sich ein paar hundert Kilometer tragen lässt. Dem Elch ist das im Grunde nicht recht, aber er ist zu höflich, um dem Mond etwas zu verbieten. Im Sommer schlägt der Elch Purzelbäume, das
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