Suehne
»Eigentlich ist es höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Das habe ich zumindest vor, ich wollte dir aber vorher noch das hier geben.« Sie reichte ihm eine Plastiktüte, die der Form nach zu schließen eine größere Flasche enthielt. Wodka, ein ganzer Liter, und dem Etikett nach zu urteilen russisch. Er kannte die Marke nicht und konnte die kyrillischen Buchstaben auch nicht entziffern.
»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Bäckström mit jovialer Miene. »Setz dich doch und mach die Tür hinter dir zu, damit wir die bösen Zungen nicht zu hören brauchen.« »Unsere kleine Wette«, erwiderte Nadja. »Ich hatte deswegen schon ein schlechtes Gewissen.«
»Ich dachte, ich sei dir eine Flasche schuldig. Ich wollte schon auf dem Weg nach Hause beim Systembolaget vorbeigehen«, log Bäckström. Schlechtes Gewissen? Was sollte das?
»Bereits als wir gewettet haben, habe ich geahnt, dass Danielsson recht vermögend sein könnte. Ich hatte schon Nachforschungen über seine Aktiengesellschaft angestellt. Das mit dem Topf voll Gold war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ich bin dir also eine Flasche schuldig. Du schuldest mir überhaupt nichts.«
»Einen kleinen Schluck vielleicht?«, fragte Bäckström und sah noch jovialer aus. »Nach einem harten, fleißigen und strebsamen Arbeitstag?« Diese Russen sind wirklich listig, dachte er. Dieses Weibsbild hätte mich fast, ohne mit der Wimper zu zucken, um meinen Gewinn betrogen. Am Tag danach hat sie dann plötzlich ein schlechtes Gewissen und will die Sache bereinigen.
»Aber einen ganz kleinen«, erwiderte Nadja. »Das ist übrigens der beste Wodka, besser als Stolichnaya, Kubanskaya oder Moskovskaya. Er heißt Standart, und das Systembolaget führt ihn nicht. Meine Verwandten bringen mir immer ein paar Flaschen mit, wenn sie mich besuchen.«
»Das wird sicher ein interessantes Geschmackserlebnis«, sagte der Genießer Bäckström, der bereits zwei Gläser und eine Tüte Halspastillen aus seiner Schreibtischschublade gefischt hatte.
»Ich habe noch ein Glas Salzgurken im Kühlschrank«, meinte Nadja und betrachtete misstrauisch die Tüte mit den Pfefferminzbonbons. »Ich hole lieber die.« Sie hatte nicht nur Salzgurken, sondern kam mit Graubrot, geräucherter Wurst und Schinken zurück.
Muss wohl an allen Weltkriegen liegen, die die Russen durchgemacht haben, dachte Bäckström. Ein richtiger Russe hat immer eine Speisekammer in Reichweite, falls wieder ein Krieg ausbricht.
»Skäl, Nadja«, sagte Bäckström, biss ein ordentliches Stück von der Wurst ab und hob sein Glas.
»Sdarowje!«, sagte Nadja, lächelte mit allen ihren Goldkronen und kippte ihr Glas, ohne mit der Wimper zu zucken. Verdammt, dachte Bäckström eine Viertelstunde später nach einem weiteren großen Schnaps, einer ganzen Salzgurke und einer halben Wurst. Diese verdammten Russen haben wirklich ein großes Herz, wenn man sich nur etwas Mühe gibt und ihr Vertrauen gewinnt.
»Damit geben wir uns doch noch nicht geschlagen, Nadja«, sagte Bäckström und goss den dritten Schnaps ein. »Jetzt fehlen uns nur noch eine Balalaika und ein paar Kosaken, die auf dem Schreibtisch tanzen.«
»Es geht uns auch so gut«, meinte Nadja. »Auf die Kosaken verzichte ich gerne, aber gegen etwas Balalaikamusik hätte ich jetzt nichts einzuwenden.«
»Erzähl doch ein wenig von dir, Nadja«, sagte Bäckström. »Wie kommt es, dass du hier gelandet bist? Bei Mutter Svea im hohen Norden.« Sehr viel Herz, dachte er. Ein so guter
Wodka war ihm noch nie untergekommen. Ich muss mir bei Gelegenheit eine Kiste besorgen, dachte er. »Wenn du es dir anhören willst«, meinte Nadja.
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Bäckström, lehnte sich zurück und schenkte ihr sein herzlichstes Lächeln.
Dann erzählte Nadja. Als Nadjesta Ivanova hatte sie das zerfallende Sowjetreich verlassen. Sie war nach Schweden gekommen und war dort Nadja Högberg geworden. Seit zehn Jahren arbeitete sie jetzt als zivile Ermittlerin bei der Kripo der Polizeidirektion West.
Ganz leicht war das alles nicht gewesen. Nach dem Examen hatte sie als Gefahrenanalytikerin in der Kernkraftindustrie gearbeitet. Sie war an mehreren Atomkraftwerken im Ostseeraum tätig gewesen.
Zum ersten Mal hatte sie 1991, zwei Jahre nach Glasnost, einen Ausreiseantrag gestellt. Da hatte sie in einem Atomkraftwerk in Litauen nur einige Dutzend Kilometer von der Ostsee entfernt gearbeitet. Sie hatte nie eine Antwort erhalten. Eine Woche später war sie zu ihrem Chef
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