Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
hübsche Mädchen reckt sich wie eine Tänzerin und antwortet: »Ich bin Alabama Brannigan, und ich verbiete Ihnen, mich als Hündin zu bezeichnen.«
Strahlend hebt sich die Stimme des Mädchens über das finstere Schweigen hinweg. Wie ein Kristall.
»Ist euch denn nicht klar, was hier abläuft? Er will uns umbringen. Er will euch umbringen. Hat keiner was dazu zu sagen? Sieht denn keiner, dass wir zahlreich genug sind, um uns gegen diese Feiglinge zu wehren? Wir müssen es nur wollen!«
Peter wäre gern mutig genug, um »ja, ich« zu sagen. Er hätte gern die Kraft, um sich zu Alabama in die Mitte des Quadrats zu stellen. Mit ein wenig Glück würden die übrigen Verlorenen Jungs folgen. Er denkt an Wendy. Daran klammert er sich, als sich das Ungeheuer um Alabama zusammenzieht. Wendy weint. Collie hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Peter hört Alabama unter den Schlägen ächzen. Er hört das Schreien und Schimpfen und Spucken aus vielen Kehlen. Es schlägt, kratzt, reißt und zerreißt. Unter dieser Sturzflut von Hass zerbrechen Alabamas Gliedmaßen. Langsam versinkt ihr Körper in dem Meer von Gesichtern und Armen. Sie, die Widerstand geleistet hat, gibt auf. Ein letzter Blick fällt auf Collie, der in seine Hände weint. Sie versucht, einen Arm zwischen den anderen Armen hindurchzustrecken; es gelingt nicht. Sie bewegt sich seltsam. Sie erschlafft. Geht unter. Es wird noch eine Weile geschlagen und getreten. Dann hält das Ungeheuer inne. Es weicht zurück. Es ordnet sich wieder. Ein schleifendes Geräusch sagt, dass ein Körper weggezogen wird. Als Peter die Augen öffnet, sieht er in der Lücke, die Alabama hinterlassen hat, ein bisschen Blut, eine Handvoll Haare, Fetzen ihres Overalls auf dem Boden liegen. Der Reverend scheint sich erst jetzt wieder aus seiner Starre zu lösen. Er hat das Martyrium nicht mitbekommen. Er weiß nicht einmal, wer das Mädchen war. Mechanisch beginnt er wieder: »Ich wende mich abermals an den Verräter. Ich gebe ihm zehn Sekunden Zeit, um sich anzuzeigen. Danach ist es zu spät.«
Die Sekunden vergehen in Todesstille, nur der Reverend zählt rückwärts. Als er fertig ist, hebt er den Blick zum Horizont. Peter dreht sich um. Aus der Ferne nähert sich eine Staubfahne.
113
Mit hoher Geschwindigkeit rast der Wagen die Straße nach Redemption entlang.
»Ackermann?«, flüstert Peter. »Jemand kommt. Jemand von außen.«
»Ich erkundige mich.«
»Mann, beeilen Sie sich bloß …«
Howard murmelt: »Das bist du, der Verräter, oder?«
»Ich hab das FBI verständigt. Wir müssen bis zum Morgengrauen durchhalten.«
In Howards angsterfülltem Blick leuchtet ein Hoffnungsschimmer. »Wie hast du das geschafft?«
»Später, Howard. Wir haben ein Problem.«
»Was ist?«
Peter deutet mit dem Kopf auf den Wagen, der näher kommt. »Kann sein, dass ich bald aus dem Rennen bin. Du musst es schaffen, die Verlorenen Jungs heute Nacht zusammenzutrommeln. Ihr müsst unbedingt durch den Karzer abhauen.«
»Das trau ich mir nicht zu, Pete.«
»Du musst es mir zuliebe tun, Howie. Und du musst es für Wendy tun und für Alabama.«
»Ich mach es.«
Das kam von Ezzie. Der Riese hat dabei mit keiner Wimper gezuckt. Stur starrt er geradeaus.
»Die Profose Helliwell oder Ash, okay, Ezzie? Die haben die Schlüssel.«
»Er wird sie umbringen, Pete. Er kann’s nicht anders.«
»Aber ich hör wieder auf, Howard. Nur die roten und blauen Overalls. Und den Reverend.«
»Ezzie?«
»Ja.«
»Wenn was mit mir ist, kümmerst du dich dann um Wendy?«
»Klar. Keine Sorge.« Ezzie holt tief Luft und fügt hinzu: »Es war mir eine Ehre, dich zu kennen, Pete.«
»Danke, gleichfalls, Riese.«
Die Profose öffnen das Tor. Rote und blaue Gestalten eilen durch die Staubwolke dem Streifenwagen entgegen, auf dessen Motorhaube das Abzeichen der Polizei des Claiborne County prangt. Der Wagen hält wenige Meter vor dem Quadrat. Deputy Sheriff Brunswick wälzt sich heraus und zerrt den Gürtel unter seinem mächtigen Bauch ein Stück höher. Er trägt eine verspiegelte Sonnenbrille und kaut ein Stück Priem; als er auf die Häftlinge zuwallt, spuckt er einen braunen Speichelstrahl in den Staub. Zwischen seinen Wurstfingern hält er eine alte Baseballmütze. Langsam geht er die Reihen entlang und mustert jedes einzelne Gesicht. Rund um den Streifenwagen herrscht hektisches Treiben. Der Kofferraum steht offen, die roten Overalls zerren schwere Kisten heraus und stellen sie auf dem Boden ab. Einer stemmt
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