Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Kleider zerknittert und fleckig. Er lässt seine blutunterlaufenen Augen über die Menge der Häftlinge schweifen. Tief tönt seine Stimme durch die Lautsprecher.
»Hunde und Hündinnen von Redemption. Unter uns ist ein Verräter.«
Ein unbestimmtes Raunen folgt seiner Ankündigung. Der Reverend nimmt einen Schluck Wasser. Ein kleines Rinnsal fließt seitlich am Mund vorbei und tropft ihm vom Kinn.
»Dieser Verräter«, fährt er fort, »hat das schlimmste aller Verbrechen begangen. Wisst ihr, was es war?«
Aus vielen Kehlen kommt ein schüchternes »Nein«.
»Und wollt ihr es wissen?«, knistert die Stimme aus den Lautsprechern. »Wenn ihr es wissen wollt, sagt: ›Ja.‹«
Die Jugendlichen geraten in Bewegung und rufen durcheinander. Peter hat auf einmal den Eindruck, als bildeten sie jetzt alle nur noch eine Person, ein einziges, ferngesteuertes Ungeheuer mit Dutzenden Armen, Beinen und Augen, dessen Münder mit einer Stimme antworten. Er gibt sich Mühe, sich ihm anzupassen. Wieder dröhnt die Stimme des Reverends durchs Mikrofon, und er schüttelt die Faust zum Horizont.
»Dieses niederträchtige Geschöpf hat Kontakt zur Außenwelt aufgenommen. Er hat der Außenwelt mitgeteilt: ›Dies und jenes geschieht in meiner Familie, dies und jenes tun meine Geschwister, bitte sehr, hier liefere ich euch für eine Handvoll Silberlinge meine Herde aus.‹ Unsere Feinde formieren sich neu.«
Wieder nimmt der Reverend einen Schluck Wasser. Er wirkt abgespannt.
»Der Verräter ist unter uns«, sagt er. »Dieser Unrat, dieser Abschaum ist unter uns. Er isst unser Brot und atmet unsere Luft. Er verrät uns, und doch ist er unter uns.«
Das Ungeheuer hebt witternd seine Schnauze. Fahndet nach Fremdgerüchen. Hasserfüllte Blicke heften sich auf Ezzie und die Verlorenen Jungs. Eine rasselnde Stimme schreit: »Sicher ist es der fette Riese mit seinen Kumpels!«
»Ja, ganz bestimmt! Die stecken sowieso immer zusammen!«
Ezzie erstarrt voller Furcht. Peter legt seinem Freund eine Hand auf den Arm. Unter seinen Fingern spürt er die Muskeln des Riesen zucken.
»Ich wende mich jetzt an den Verräter«, sagt der Reverend. »Wenn er sich anzeigt, lassen wir ihn gehen. Er wird seine spärlichen Habseligkeiten packen und sich irgendwo in der Außenwelt verlaufen. Wollt ihr das?«
» NEIN !«
»Doch, meine Wölfe. Wir müssen ihn ziehen lassen. Die Strafe, zu der wir ihn verurteilen, lautet: Rückkehr in die Außenwelt. Wir hingegen bleiben hier, und nichts kann uns je anstecken. Wollt ihr das?«
» JA !!«
Das Ungeheuer ist erhitzt. Es strotzt vor Blutdurst. Der Reverend breitet die Arme aus, wie um das gesamte Quadrat der Häftlinge zu umfangen. Mit tiefer Stimme verkündet er: »Morgen, wenn der Verräter aus unseren Reihen verschwunden ist, werden wir gemeinsam die letzte Mahlzeit einnehmen. Und wenn dann die Horden unser Jerusalem stürmen, finden sie uns Hand in Hand liegen, für immer dem Blick Gottes dargeboten. Wollt ihr das?«
Manche brechen in Tränen aus. Andere fallen einander in die Arme. Die meisten begreifen nicht, was ihnen der Reverend da in Aussicht stellt, nicken aber stürmisch.
»Wollt ihr das? Wenn ihr es wollt, ruft laut: ›Ja!‹«
» JA !«
Das Quadrat zerfasert vor Aufregung. Die Profose sind gezwungen, den Schlagstock einzusetzen, damit es sich wieder ordentlich formiert. Noch gibt es Tränen, Klagen, bange Rufe, doch es kehrt wieder Ruhe ein. Dann aber erhebt sich unversehens eine helle Stimme. Beinahe eine Kinderstimme.
»Seid ihr denn alle verrückt geworden?«, fragt sie.
Das Ungeheuer fährt zusammen. Es beginnt zu knurren, und seine Arme zucken nervös. Es blickt in sich und sucht dort nach dem Sprecher. Die Augen des Reverends gleiten über das Quadrat hin. Seine Lippen nähern sich dem Mikro.
»Wer wagt es?«
Peter blickt die Reihe der gelben Overalls entlang, und bei der Vorstellung, es könnte Wendy gewesen sein, packt ihn kaltes Entsetzen.
Wieder erhebt sich die helle Stimme: »Ich.«
Jetzt richten sich alle Blicke auf Alabama, die in der Mitte des Quadrats steht. Collie will zu ihr stürzen, doch Marcellus hält ihn zurück. Die Verlorenen Jungs ziehen die Köpfe ein. Sie müssen einsehen, dass sie für Alabama nichts mehr tun können. Erhobenen Hauptes fragt sie laut: »Wollt ihr tatsächlich zulassen, dass dieser Verbrecher uns alle umbringt?«
Das Ungeheuer antwortet nicht. Es wartet auf die Anweisungen des Reverends.
»Bist du die Verräterin, junge Hündin?«
Das
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