Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
es dort in der Ferne, bis das Licht langsam schwächer wird.
Shepard hat das Fernglas auf den Punkt gerichtet, wo der Widerschein der Sonne am Verlöschen ist. Genau dort ist es, zwischen dem skelettierten Baum und diesem seltsamen Felsen, der sich etliche Meter über den Boden zu krümmen scheint. Ein Felsdach über einer von oben unsichtbaren Sandsenke. Shepard spürt, wie sein Herz zu hämmern beginnt. Das ist ein Rückspiegel, der die Sonne reflektiert. Das ist es, was er durchs Fernglas sieht. Er dreht an der Rändelscheibe, um die Optik schärfer einzustellen. Er meint eine Form zu erkennen, die für einen Felsen zu glatt ist. Er tritt abermals einen Schritt zurück und schließt jetzt doch einen Moment die Augen. Hoch über ihm schreit ein Geier. Es hört sich fast enttäuscht an. Shepard erschauert. Nein, eher wie ein Gelächter.
20
Der Motor heult auf, als der Geländewagen sich den felsigen Hang hinaufquält. Das Bodenblech schrammt über scharfe Steinkanten. Reifen drehen sich einen Moment lang in der Luft, ehe sie wieder Halt im Sand finden. Jetzt geht es gemächlich abwärts. Rechts von ihm der längst abgestorbene, praktisch versteinerte Baum. Weiter unten dieser seltsame Felsen, der eine Art Vordach bildet. Ein windgeschütztes Stück Wüste. Eine Einöde, in der Jahre vergehen können, bevor mal jemand vorbeikommt. Die Gegend scheint so friedlich – kaum vorstellbar, dass man hier sterben kann.
Am Fuß des Abhangs hält er an. Hundert Meter vor ihm steht der Lexus. Die Reifen sind beinahe vollständig unter Sandwehen verschwunden.
Shepard schaltet den Motor aus. Es ist totenstill – kein Windhauch, kein Insektengebrumm. Nicht das kleinste Dornengestrüpp ragt aus der weichen sandigen Masse der Wüste. Es ist so still, dass man sich auf dem Grund des Meeres glauben könnte.
Als Shepard aus dem klimatisierten Fahrzeug steigt, prallt ihm die Hitze entgegen, als stieße er mit dem Kopf gegen eine Wand. Den Schweiß, der ihm sofort aus allen Poren bricht und übers Gesicht und unter den Achseln rinnt, spürt er nicht. Mechanisch zählt er die Schritte, die ihn von dem Lexus trennen. Der Wind hat die Fensterscheiben mit feinem Sand bestäubt. Jetzt, wo er nur noch zehn Meter entfernt ist, erkennt er die kleinen Gestalten auf der Rückbank. Schmale Schultern und Puppengesichter, ihm zugewandt.
Monica sieht ihn näher kommen. Meredith, in ihren Sitz eingegurtet, scheint zu schlafen. Shepard schnürt es die Kehle zu. Er hat seine Kinder wiedergefunden! Gleich wird er sie in die Arme schließen und fortbringen, fort aus dieser Hölle, diesem Glutofen! Und dann ein ganzer Monat Ferien am Meer, Cape Cod oder Hawaii. Das Meer und einen ganzen Lkw kalte Limonade nur für die Kleinen.
Wenige Zentimeter vor dem Lexus ist Shepard stehen geblieben. Barbara ist auf dem Fahrersitz zusammengesunken. Es sieht aus, als schliefe sie. Shepard winkt Monica zu, die ihr Fläschchen hält und ihn immer noch unverwandt durch die Scheibe ansieht. Ihr Gesicht ist blass. Ein Näschen mit durchscheinenden Flügeln und Lippen aus Porzellan. Weißliche Spuren haben sich durch den Schmutz auf ihren Wangen gefurcht. Shepard begreift, dass Monica viel geweint hat, ehe sie eingeschlafen ist. Eine Mischung aus Speichel und geronnener Milch ist auf ihrem T-Shirt eingetrocknet. An Kinn und Hals haftet eine Kruste aus winzigen weißen Krümeln, wie Salzkörner.
Shepard ist schon im Begriff, die Tür zu öffnen, als er etwas Schwarzes, Pelziges zwischen den halb geöffneten Lippen seines Mädchens krabbeln sieht; das Blut scheint ihm in den Adern zu gefrieren. Eine große schwarze Fliege kriecht aus dem Mund des Kindes und lässt sich auf der Wange nieder, um sich die Flügel zu glätten. Gleichgültig gegen die Hitze, die ihm die Handfläche versengt, als er die glühende Karosserie anfasst, öffnet Shepard die Tür. Ein entsetzlicher Gestank nach getrocknetem Blut und totem Fleisch schlägt ihm entgegen. Er sieht die Einwickelpapiere der geschmolzenen Bonbons, die seine Mädchen zu zerreißen versucht haben. Mit den Fingerspitzen schließt er Meredith die Augen. Er drückt einen Kuss auf Monicas Stirn, streift mit den Lippen über ihre Wange. So weich ist ihre Haut, so zart. Lauwarm, fast wie im Leben.
Shepard streicht Barbara über das Haar. Ganz leise spricht er mit seinen Mädchen. Sagt ihnen, dass der Papa jetzt da ist und alles überstanden. Dann sinkt er langsam in sich zusammen und mit ihm das Universum. Er fällt erst auf
Weitere Kostenlose Bücher